Kein Platz für Weihnachten
Ella Scheer
Ella Scheer
„Hustenzuckerl?!“ Noahs Ausruf hinterließ eine weiße Atemwolke in der kalten Luft. Er konnte nicht fassen, was aus dem Rucksack seines Freundes zum Vorschein kam. „Es sind süße, keine scharfen“, murmelte Felix, dem die Sache etwas peinlich war, aber andere Süßigkeiten waren auf die Schnelle nicht aufzutreiben gewesen. Und er war schon froh, nicht für das Essen zuständig zu sein, denn der Kühlschrank zu Hause war meistens leer. Sein Vater kaufte nur das Nötigste, wenn er vor oder nach seiner Schicht in der Fabrik noch schnell zum Supermarkt ging. Vorausplanen war nicht seine Sache, dafür war immer seine Frau zuständig gewesen. Und an den Feiertagen arbeitete er jetzt immer.
„Die passen super, die kann man gut mit Schnüren an den Baum hängen!“ Marie hatte sich fest vorgenommen, sich ihre gute Laune durch nichts verderben zu lassen. Was sollte auch schiefgehen, so gut wie sie die ganze Aktion durchdacht hatte. Nicht umsonst war sie nach einer Nobelpreisträgerin benannt, was sie ihre Freunde bei jeder Gelegenheit wissen ließ. Das Organisieren hatte sie von ihren Eltern gelernt. Die organisierten nämlich andauernd irgendetwas – einen Vegan-Kochen-Workshop da, eine Demonstration dort. Heute waren sie für den ordnungsgemäßen Ablauf der Lichterkette zuständig, die sie organisiert hatten, um an den Feiertagen für den Frieden auf der Welt zu singen. Weswegen das gemeinsame Singen unter dem Weihnachtsbaum heuer ausfiel und Weihnachten gleich mit – aus Protest gegen die Scheinheiligkeit der Kirche und den Konsumterror, wie ihre Eltern überall im Dorf verkündet hatten. Dabei hatte Marie sich nur ein Computerspiel gewünscht, so eines, wo man sich seinen eigenen Bauernhof erschaffen kann. Und für das Geschenkpapier hätte bestimmt kein ganzer Baum dran glauben müssen. Höchstens ein kleiner Ast, da war sich Marie sicher.
Der Christbaum, den sich die drei zum Schmücken ausgesucht hatten, stand in kniehohem Schnee.
Er würde heute nicht gefällt werden. Anders als die große Tanne, an der sich Noahs Vater und seine älteren Brüder wahrscheinlich gerade zu schaffen machten. Er wäre auch gerne dabei gewesen, stattdessen musste er wie jedes Jahr mit seinen kleinen Schwestern zum Kindertheater gehen, während seine Mutter mit der Großmutter das Festessen für den Christtag vorbereitete, bevor sie am Abend alle zur Messe gingen. Es nervte unheimlich, das mittlere von sieben Kindern zu sein. Die Tatsache, dass sein Verschwinden noch gar nicht aufgefallen war, verdeutlichte, wie er sich fühlte: unsichtbar. Aber von seinen Freunden wurde er zumindest wahrgenommen, selbst wenn er auch hier nicht viel zu sagen hatte, weil Marie das Kommando führte wie ein General. „Und ganz oben noch den Weihnachtsstern drauf, Noah, klettere auf den Felsen da hinten, wenn du nicht rankommst!“
Von dem langen Marsch durch den sonnendurchfluteten Wald war ihnen warmgeworden. Hauben und Schals lagen jetzt zwischen ihren Rucksäcken und setzten Schneeflocken an, die langsam in immer größerer Menge vom inzwischen grau gewordenen Himmel durch die kahlen Äste fielen. Bis auf die Schreie der Krähen und das gelegentliche Klopfen eines Spechts war nichts zu hören und die Hustenzuckerl leuchteten in grellen Farben von den Zweigen. „Schaut super aus, dann gehen wir mal rein, Jungs!“
Sie kletterten über Wurzeln und Felsen ein Stück höher und betraten den Ort, den Marie für ihr geheimes Fest auserkoren hatten, seit feststand, dass es heuer keines mit ihrer Familie geben würde. Weihnachten war schließlich kein Fußballspiel, das man einfach ausfallen lassen konnte, weil der Mittelstürmer sich den Knöchel verstaucht hatte und der Torwart aus Liebeskummer betrunken war. Weihnachten war wie der Nordpol – unverrückbar.
Drinnen war es ziemlich finster, bis Marie die Taschenlampe einschaltete. Der Lichtkegel fing einen halbwegs ebenen Steinboden von den Ausmaßen eines geräumigen Zimmers ein und schroffe Felswände rundherum, über die an manchen Stellen in dünnen Rinnsalen Schmelzwasser sickerte. Es roch ein wenig modrig. „Hätte ich mir gemütlicher vorgestellt.“ Noah ließ seine Sachen auf den harten Boden fallen und wünschte, er hätte daran gedacht, Kerzen mitzunehmen.
„Ich habe letzte Woche schon Holz gesammelt, daraus machen wir ein schönes Lagerfeuer“, verkündete Felix, der froh war, sich nützlich machen zu können, und zeigte auf einen Haufen aus dünnen und dicken Ästen, die weiter hinten im Halbdunkel lagen. Das Feuerzeug war nicht schwer zu beschaffen gewesen, sein Vater rauchte wie ein Schlot. So konnten sie sich rechtzeitig mit Einbruch der Dunkelheit Licht und Wärme in die kleine Höhle zaubern, aus der dunkler Rauch in großen Schwaden nach draußen in die stille Nacht zog.
„Die Höhle ist groß genug für einen ausgewachsenen Bären“, überlegte Noah, „bist du sicher, dass hier keiner wohnt?“ – „Mach dich nicht lächerlich, in diesem Wald laufen höchstens ein paar Wildschweine rum“, erklärte Marie, die es wissen musste, denn ihre Mutter unterrichtete in der Unterstufe Biologie und kannte sich mit der heimischen Tierwelt aus. Felix rührte nachdenklich mit einem Stock in der Glut herum. „Aber mein Vater sagt, ein Jäger aus dem Ort hätte hier letztens einen Wolf gesehen. Es werden immer mehr, weil sie geschützt sind und die wandern viele hundert Kilometer weit.“ – „Macht euch mal nicht in die Hosen, Jungs, in diesem Wald gibt es ganz sicher nichts Gefährliches. Außer Wildschweinen vielleicht und die fürchten sie sich vor Feuer.“ Sie versuchte überzeugend zu klingen, obwohl ihr bei dem Gedanken mulmig wurde, das Feuer könnte ausgehen, bevor es wieder hell wurde.
Inzwischen waren sie so hungrig, dass ihnen sogar der von Marie mitgebrachte laktosefreie Gemüseaufstrich und das Vollkornbrot schmeckten. Sie staunten nicht schlecht, als Noah danach eine Dose mit frisch gebackenen Keksen hervorkramte, die er aus der heimischen Speisekammer geklaut hatte. Aber das war noch gar nichts gegen Felix‘ Mitbringsel – eine Flasche Bier. „Das Zeug wollt ihr doch nicht ernsthaft trinken?“, konnte Marie gerade noch fragen, als die Kappe mit einem Plopp dem Flaschenöffner nachgab. „Frohe Weihnachten!“, grinste Noah. Sie reichten die Flasche herum und lachten über ihre eigenen Grimassen. Es schmeckte noch scheußlicher als es roch, aber es machte sie angenehm müde, und schon bald waren sie in ihren Schlafsäcken eingeschlummert.
Felix träumte von seiner Mutter, die versuchte, ihn wachzukriegen, indem sie sein Gesicht mit einem feuchten Schwamm bearbeitete. „Lass das“, murmelte er, aber es hörte nicht auf. Nur langsam kam er ausreichend zu Bewusstsein, um zu erkennen, dass etwas Haariges mit vier Beinen und schlechtem Atem über ihm stand und ihn genüsslich ableckte. Da erst dämmerte ihm, wo er war. Gleichzeitig stieß Marie einen Schrei aus und rief: „Hilfe, ein Wolf!“ In Panik versuchte Felix sich aufzurappeln, verhedderte sich im Schlafsack und fiel rückwärts in die noch warme Asche. Eine riesige graue Staubwolke stieg auf und Noah, der jetzt auch wach war, begriff den Ernst der Situation und bekam prompt einen Lachanfall.
„Doodles, mein Guter, komm her“, hustete er. Denn der vermeintliche Wolf war der alte Schäferhund seiner Familie, der offenbar die Vorhut eines Suchkommandos darstellte. Jetzt fing er fröhlich zu bellen an und gleich darauf erschienen ein paar Gestalten im morgendlichen Dämmerlicht des Höhleneingangs. Es waren Noahs Vater, einer seiner Brüder und Maries Mutter. Sie hatten die ganze Nacht nach ihnen gesucht. Gemeinsam mit den Vätern von Felix und Marie, die eine andere Ecke des Waldes durchkämmt hatten. Sofort wurden sie dazugerufen und es bedurfte einiger Erklärungen und vieler Umarmungen, bis sich alle wieder beruhigt hatten. Schließlich wurden sie alle von Noahs Vater zum Weihnachtsessen auf den alten Bauernhof eingeladen, wo die Familie wohnte, denn da war Platz genug für alle. Und – für Weihnachten.
Ella Scheer ist Lektorin und Ghostwriter.