Die Nasendiebin

von Jennifer B. Wind

Mama lag im Bett. Clara versuchte sie zu wecken, aber Mama stöhnte nur leise. Clara zählte an ihren Fingern ab, wie viele Tage das jetzt schon so ging: 1, 2, 5, 7, 8 … schon acht Tage war ihre Mama also nicht mehr aufgestanden. Was sollte sie tun?

Claras Magen grummelte laut. Sie streichelte Mamas Hand und drückte kurz ihr Gesicht in deren heiße Handfläche, dann stand sie von der Bettkante auf und tapste in die Küche. Sie durchforstete die Schränke, fand aber nichts Essbares mehr. Darum hielt sie ihr Gesicht unter den Wasserhahn, drehte auf und trank gierig, bis sie zumindest keinen Durst mehr hatte. Doch der Hunger war hartnäckig.

Es half alles nichts. Geld hatte Clara nirgendwo mehr gefunden – nicht in den Schubladen, nicht in Mamas Taschen. Sie hatte sogar die Aufbewahrungsgläser umgedreht und die harten Nudeln und das Mehl rausbefördert. Aber auch da war kein Geld gewesen. Nachdem sie das Mehl mit Wasser in einem Schälchen vermischt und gegessen hatte, und später die harten Nudeln, war nichts mehr übrig gewesen.

Vor drei Tagen hatte sie es dann zum ersten Mal getan: Sie hatte sich einfach den Schlüssel genommen, sich angezogen und war nach draußen gelaufen.

Jetzt tat sie es wieder, sie hatte keine Wahl. Die Schneedecke war dicker als am Tag zuvor. Clara sank beim Gehen bis zu den Knien ein. Dazu pfiff ein eisiger Wind. Clara besaß keine Handschuhe. Ihr Mäntelchen hatte nur noch einen Knopf. Durch die Löcher, die  seltsame kleine Tiere hineingefressen hatten, zog die Kälte hinein. Ihren Schal wickelte sie nicht nur um den Hals, sondern auch um den Kopf herum, damit die Ohren warm blieben. Papa hatte immer gesagt, man müsse die Ohren warmhalten. Er selbst trug nie eine Mütze. Ob er deswegen gestorben ist? Seit dem Tag vor einem Jahr war sie mit Mama allein. Sie hatten kein Geld. Und nun lag Mama seit acht Tagen im Bett und es wurde immer schlimmer. Sie konnte nicht mehr arbeiten. Clara wusste nicht, was Mama für eine Krankheit hatte. Aber sie durfte den Arzt nicht holen, das hatte Mama verboten. Clara war böse auf Papa, weil er versprochen hatte, vom Himmel aus auf sie aufzupassen. Jeden Abend redete sie mit ihm, aber mittlerweile glaubte sie, dass er ihr gar nicht zuhörte.

Clara hetzte die Straße entlang; sie wusste genau, wo sie hinwollte. Es gab ein eingezäuntes Fleckchen mitten in der Stadt, auf dem Menschen in kleinen Gartenhäuschen wohnten. Viele hatten Schneemänner gebaut und jedes kleine Kind wusste: Wo es Schneemänner gibt, findet man etwas zu essen.

Zuerst lief sie zum Marshmallow-Haus, das sie so nannte, weil der Zaun aussah, als wäre er aus Marshmallows zusammengesetzt. Sie blickte sich um, kletterte flink über den Zaun und lief zum Schneemann, der mitten im Vorgarten stand. Die Leute hatten – wie auch gestern schon – die Nase ersetzt. Rasch stibitzte Clara die neue Nase und lief denselben Weg retour. Ihr Diebesgut steckte sie in die Manteltasche. So ging es dahin. Schneemann um Schneemann. Nase um Nase. Das fünfte Haus war das Haus des Griesgrams. Gestern hatte Herr Griesgram sie beschimpft, als sie mit der Schneemannnase davongelaufen war. „Frecher Fratz!“, hatte er gerufen. Und: „Der Weihnachtsmann wird dir nichts bringen!“

Clara wusste längst, dass der Weihnachtsmann heuer nicht kommen würde. Mama hatte noch nicht einmal einen Baum besorgt. Weihnachten würde heuer ausfallen. Zumindest für Clara.

Sollte sie dieses Haus auslassen? Der Hunger war stärker, sie brauchte Vorräte. Und Mama musste auch etwas essen. Vorsichtig schlich Clara in den Garten, ganz langsam, sehr leise und ein bisschen geduckt. Der Schneemann trug wie alle anderen eine neue Nase, eine Riesenkarotte war es diesmal. Clara lief das Wasser im Mund zusammen. Der Hunger war so groß, dass sie die Nase sofort in den Mund steckte und hineinbiss. Autsch! Die Nase war nicht echt. Sie war hart, wie aus Stein. Als Sarah die Nase aus dem Mund nahm, merkte sie, dass ihr ein Zahn ausgebrochen  war. Es tat weh. Und ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Auf einmal wurde ihre Trauer so groß, dass sie nicht mehr gehen konnte. Sie legte sich in den Schnee vor den Schneemann und rollte sich zusammen. Tränen kullerten über ihre Wangen, der Rotz lief aus ihrer Nase, ihr war alles egal. Sie wollte ihren Papa wieder und sie wollte, dass ihre Mama wieder ihre Mama war, so wie früher, als sie gemeinsam gelacht hatten und durch das Zimmer getanzt waren, angezogen mit Glitzerkleidchen wie Barbies.

Die Tür ging auf und der Griesgram kam raus. Soll er schimpfen, wie er will. Egal.

Doch es passierte etwas ganz anderes.

Der Griesgram hockte sich vor sie hin: „Mädchen, was ist denn los?“ Und da platzte alles aus ihr heraus. Sie erzählte dem Griesgram die ganze Geschichte, auch wenn sie wusste, dass Mama das nicht wollte.

Da tupfte sich der Griesgram die Augen.

„Mädchen, ich dachte, du wolltest mir absichtlich einen Streich spielen. Also wollte ich dir mit der Steinnase auch einen spielen. Hätte ich gewusst, dass du nur Hunger hast… zeig mir, wo du wohnst. Ich werde die Rettung rufen, damit wir deiner Mama schnell helfen.“

„Das dürfen wir nicht“, schniefte Clara. „Mama sagt, sie hat keine Sicherung.“

„Meinst du Versicherung? Wenn es nur das ist, ich habe genug Geld. Komm mit, wir helfen deiner Mama und danach macht dir meine Frau sicher eine gute heiße Schokolade.“

Als Clara eine Woche später gemeinsam mit ihrer Mama im Haus der Griesgrams Weihnachten feierte, da wusste sie, dass ihr Papa sie tatsächlich beschützt hat, so wie er es versprochen hatte.

Jennifer B. Wind wurde in Leoben geboren und lebt mit ihrer Familie in Niederösterreich. Die ehemalige Flugbegleiterin schreibt Romane, Drehbücher, Theaterstücke und Kurztexte für Kinder (u.a. für die Kids Krone und Kinderknigge), Jugendliche und Erwachsene, die bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden. Ihr Debütthriller „Als Gott schlief“, wurde zum Bestseller. „Die Maske der Gewalt“ stand wochenlang auf der Bild Bestseller Liste. Als Coach und Mentorin kümmert sie sich um Nachwuchsautor*inn*en, arbeitet ehrenamtlich für diverse Autor*inn*envereine und sitzt seit 2012 in der Jury des Kinder- und Jugendkurzkrimiwettbewerbs Schreib.art sowie des Zeilen.lauf Lyrik und Kurzkrimipreises für Erwachsene.

Foto: ©Markus Achleitner