Dipsy rettet Weihnachten

von Elo Blau

Es war an einem bitterkalten Vormittag im Dezember. In der Weihnachtswerkstatt duftete es nach Lebkuchen und Bratapfeltee mit Zimt und Honig. Schließlich mussten sich die Wichtel zwischendurch auch mal stärken, während sie dabei waren, Berge von Wunschzetteln abzuarbeiten, die die Kinder dem Christkind geschickt hatten. Draußen tollten unterdessen ihre Ponys übermütig im Schnee, der vom Sonnenlicht so wunderschön glitzerte und unter den Hufen der Tiere leise knirschte.

Auf einmal kam Eusebio, der Oberwichtel, ganz aufgeregt gelaufen. Er war noch komplett außer Atem, als er die Tür der Werkstatt aufriss. „Freunde, etwas Furchtbares ist passiert: Das Christkind ist krank! Weihnachten muss heuer wohl ausfallen.“ In der Sekunde war es mucksmäuschenstill. Der Schreck stand den Wichteln ins Gesicht geschrieben. Einige von ihnen hatten dicke Tränen in den Augen, weil sie der Gedanke so traurig machte, dass die Kinder sehnsüchtig, jedoch vergeblich auf ihre Geschenke warten würden.

„Nein, d-d-das f-f-fällt nicht aus,“ ertönte von ganz hinten eine leise hohe Stimme. Die Wichtel drehten sich erstaunt um. Sie starrten verwundert auf Fips, den Kleinsten unter ihnen, der sonst fast nie ein Wort sagen wollte, weil er stotterte. Fips war nervös, seine Bäckchen liefen rot an. So viel Aufmerksamkeit war er nicht gewöhnt. Doch er nahm seinen ganzen Mut zusammen und stammelte: „N-N-Nehmen wir doch die P-P-Ponys und reiten selbst zu den K-K-Kindern.“ Die Wichtel blickten einander fragend an. Wie sollte das funktionieren? Ihre vierbeinigen Freunde konnten zwar sehr schnell laufen, aber eben nicht fliegen wie das Christkind. Sie würden also unmöglich jedes Kind erreichen. Dennoch wollten sie es unbedingt versuchen, damit zumindest nicht alle Kinder auf die Bescherung verzichten müssten. Mit Feuereifer nähten sie große grüne Satteltaschen, um die vielen Packerln transportieren zu können.

Die Ponys konnten es kaum erwarten, am Heiligen Abend mithelfen zu dürfen. Sie galoppierten um die Wette und trainierten fleißig, um am Weihnachtstag gut in Form zu sein. Nur eines stand traurig in der hintersten Ecke der Koppel. Es war Dipsy, ein elegantes Stütchen mit samtigen rosa Nüstern und seidigem weißen Fell, nicht so lang und zottelig wie jenes ihrer Kameraden. Im Sonnenlicht glänzte ihre Mähne silbrig wie Lametta. Sie trug ihren Namen, weil sie seit ihrer Geburt einen kleinen Dippel auf ihrer Stirn und zwei nebeneinanderliegende Knubbel auf ihrem Rücken hatte. Daher konnte Dipsy auch keinen Sattel tragen, weshalb sie von ihren Artgenossen oft gehänselt wurde. Das verletzte ihre zarte Seele. Sie betrachtete es als Strafe, anders zu sein.

Als sich Dipsy einmal besonders gekränkt hatte, war die weise alte Eule mit einem Ratschlag zu ihr gekommen: „Mädchen, hadere niemals mit deiner Einzigartigkeit. Sei dankbar dafür, denn der Tag wird kommen, an dem du dadurch Einzigartiges vollbringen wirst.“ Damit konnte Dipsy damals nicht besonders viel anfangen. Überhaupt wollte ihr die ganze Sache mit dem „anders sein“ nicht so recht einleuchten. Schließlich waren die anderen Ponys ja auch nicht alle gleich: Der braune Bruno etwa hatte einen dicken Kugelbauch. Onky-Donky, ein großer Grauschimmel, hatte die längsten Ohren von allen, und wenn die rot-gescheckte Guinny wieherte, erinnerte das eher an das Quieken eines Meerschweinchens. Dennoch: Sie alle konnten bei den Ausritten und Galopprennen der Wichtel mitmachen – aber Dipsy eben nicht. Und gerade jetzt, wo sie zu Weihnachten tatsächlich selbst mitwirken durften, bedrückte es sie besonders, ein weiteres Mal allein daheim im Stall bleiben zu müssen.

Der 22. Dezember war gekommen – nur noch zwei Tage bis Weihnachten. Eusebio brütete seit Tagen über der Landkarte und plante die Touren für die Wichtel.  Es war ein schwieriges Projekt, möglichst viele Kinder auf dem Landweg zu erreichen. Vor lauter Grübeln standen ihm seine strubbeligen grauen Haare mittlerweile dermaßen zu Berge, dass sie ihm die rote Zipfelmütze ein Stückchen vom Kopf hoben. In der Weihnachtswerkstatt wurden unterdessen die letzten Präsente gebastelt, bevor sie in Geschenkpapier gehüllt und danach vorsichtig in die Satteltaschen geschlichtet wurden.

Fips hatte Stalldienst und war gerade dabei, die Zaumzeuge mit roten und grünen Bändern zu schmücken und mit goldenen Glöckchen zu versehen. So sehr er den Anblick genoss, wie die kleinen Pferdchen sich stolz auf ihren großen Auftritt vorbereiteten, umso mehr brach es ihm das Herz, sein Lieblingspony so verzweifelt zu sehen. Dipsy stand unter der alten Föhre, völlig aufgelöst mit gesenktem Kopf, die Tränen liefen wie Glasperlen ihr hübsches Köpfchen hinab. Der Herzenswunsch des edlen weißen Ponys, Kinder zu Weihnachten glücklich machen zu dürfen, sollte sich wohl nicht mehr erfüllen.

Der muskulöse Rappe Rowdy war schon lange heimlich in die schöne Dipsy verliebt, doch vor seinen Kameraden hätte er das natürlich nie zugegeben, weil sie wegen ihrer Dippel ja „keine von ihnen“ war. Er wollte sie auf andere Gedanken bringen, ohne dass jemand etwas von seiner Zuneigung mitbekam. Dementsprechend stellte er sich dabei nicht besonders gefühlvoll an. Aber er dachte: ‚Besser, sie ist sauer auf mich, als geknickt wegen Weihnachten.‘ Rowdy bretterte volles Karamba in Richtung Föhre und warf sich mit aller Kraft gegen den Stamm. Dipsy erschrak und schaute nach oben. Da rutschte im selben Moment durch die Erschütterung von Rowdys Aufprall die ganze Schneelast des Baumes auf das Stütchen herab, das komplett in dem weißen Haufen verschwand, während noch ein paar Flocken aufstaubten. Die anderen Ponys lachten schadenfroh, Rowdy plagte das schlechte Gewissen.

Dipsy hatte sich gerade mit Ach und Weh aus der Baumlawine befreit, als das Kitzeln in ihrer Nase immer heftiger wurde. Haaa…. Haaaaa…. Haaaaaaaa…. tschiiiiiii!!! Aus ihrem rosa Schnäuzchen kam nicht nur jede Menge Schnee, sondern auch eine Wolke silberner Feenstaub, der sie plötzlich komplett umhüllte. Was geschah da gerade?

Die anderen Ponys trabten neugierig herbei. Auf einmal lichtete sich der funkelnde Glitzernebel über Dipsy. und die Pferdchen konnten nicht glauben, was sie da sahen. Sie waren starr vor Schreck, rissen die Augen auf, und ihre Mäulchen standen offen. Dipsy brummte der Kopf und sie hatte ein wenig Mühe, beim Aufstehen ihr Gleichgewicht zu finden. Irgendwas war anders. Und warum schauten ihre Kameraden, als ob sie ein Gespenst gesehen hätten?

Fips war unterdessen zu ihr gelaufen. Er rubbelte sich noch einmal die Augen, denen er nicht so recht trauen wollte und deutete auf ihre Stirn. „D-D-Dipsy, du hast da was!“ Dort, wo bis vor kurzem ihr Dippelchen war, ragte jetzt ein schimmerndes Horn empor, an dessen Spitze ein schillernder Kristall glänzte. Und das war nicht alles. Auf ihrem Rücken waren keine Knubbel mehr. Da war nun etwas angewachsen. Etwas Wunderschönes mit abertausenden weißen Federn. Doch Dipsy wusste nichts damit anzufangen.

Die weise alte Eule begab sich aus ihrem Nest zu ihr herab und erklärte: „Dein Tag ist gekommen, mein Kind! Es ist Zeit, Einzigartiges zu vollbringen. Breite deine Flügel aus und steig hoch in die Lüfte.“ „Aber das kann ich doch gar nicht“, entgegnete Dipsy zerknirscht. „Du hast alles, was du dafür brauchst! Wieso glaubst du, dass du das nicht kannst?“, fragte die Eule. „Weil mir schon oft jemand gesagt hat, dass ich keine tollen Sachen machen kann, weil ich anders bin.“ „Komm mit mir, meine Kleine.“ Die Eule flog voran und Dipsy trabte ihr nach. Sie musste sich redlich Mühe geben, dabei nicht über ihre Flügel zu stolpern, die auf dem Boden mitschleiften. Es war ein langer beschwerlicher Weg – immer weiter nach oben. Da sie nicht mehr die Jüngste war, hatte die Eule mittlerweile auf Dipsys Rücken Platz genommen. Die Sonne war längst untergegangen, es war eine sternklare Nacht und klirrend kalt. Dipsy war zum Umfallen müde und wünschte, sie wäre in ihrem kuscheligen Bettchen aus Stroh im warmen Stall. Was hatte die alte Eule nur mit ihr vor?

Endlich waren sie am höchsten Punkt des Mondscheingletschers angelangt. Die beiden standen an der Kante vor der steil abfallenden Eiswand. Beim Blick nach unten überkam Dipsy ein mulmiges Gefühl. Die Eule machte kehrt, stapfte ein Stückchen zurück und deutete ihrer Begleiterin, es ihr gleich zu tun. Die unbehaglichen Fragezeichen in Dipsys Kopf wurden immer lauter. „Allerhöchste Zeit, abzuheben und zu strahlen! Du läufst jetzt los, so schnell du kannst, über die Kante hinaus und dann lässt du dich einfach tragen.“
Dipsy schluckte. „Aber…“ „Nicht denken! Machen. Und vertrauen.“

Dipsy war angst und bange, doch sie wagte nicht, der weisen Eule zu widersprechen. Also fasste sie sich ein Herz und galoppierte wie der Blitz in Richtung Eiswand. Kurz vor der Kante kniff sie ihre Augen zusammen und sagte sich „Ich kann das! Ich kann das! Ich kann das!“. Plötzlich war der feste Boden unter ihren Hufen weg. Und dann geschah es: Durch den Aufwind breiteten sich ihre Flügel wie von selbst aus und Dipsy segelte wie ein Adler durch die Lüfte. ‚Ich kann das ja wirklich‘, dachte sie überwältigt. Dem Sternenhimmel so nahe zu sein, war atemberaubend. Es war ein Gefühl von Freiheit, wie sie es noch nie erlebt hatte. „Eule, sieh mal, ich fliege“, rief sie ihrer Mentorin zu, die wachsam neben ihr her flatterte, „Ich bin so glücklich, dass ich mich überwunden und dir vertraut habe“. „Du hast nicht mir vertraut, sondern dir selbst! Und jetzt fliegen wir nach Hause, kleines Einhorn. Es ist spät!“, antwortete die Eule und nahm Kurs auf zum Wichteldorf.

Was leuchtete da auf einmal so hell? Fips wurde durch den Lichtstrahl geweckt, der durch die kleine Dachluke über seinem Bett fiel. Er sprang auf, rannte zur Hütte von Eusebio und klopfte wie wild an seine Tür. „Fips, was ist los? Was machst du denn da – mitten in der Nacht, nur im Pyjama und Ringelsocken?! Du wirst noch krank!“, brummte der schlaftrunkene Oberwichtel mürrisch. „D-D-Da oben – sieh doch!“ Eusebio gähnte und rieb sich die Augen, da wurde er auch schon von dem gleißenden Schimmer geblendet, der auch die anderen Wichtel aus dem Träumeland gestupst hatte. Sie alle waren mittlerweile vor Eusebios Hütte versammelt. „Dann stimmt es also tatsächlich,“ flüsterte er verblüfft. Er hatte zwar schon darüber gelesen, doch mit eigenen Augen hatte Eusebio etwas Derartiges noch nie gesehen. „Das ist wohl unsere Dipsy, und wenn sie fliegt, leuchtet die Spitze ihres Horns heller als der Abendstern.“

Ihre erste Landung gestaltete sich etwas holprig: Als ihre kleinen Hufe den Schnee berührten und Dipsy damit bremsen wollte, dachte sie nicht daran, vorher ihre Flügel anzuwinkeln. So hatte sie zu viel Schwung, schlug einen Purzelbaum über ihr Horn und schlitterte auf ihrem Bauch – alle Viere von sich gestreckt – direkt vor Eusebios Füße, wo sie zunächst selig grinsend liegen blieb. Die Eule schüttelte den Kopf. „Das müssen wir noch üben!“

„D-D-Das ist es! Ich hab’s! Ich hab’s!“ Fips zog Eusebio ganz hektisch an seiner Zipfelmütze. Dieser mochte das gar nicht, schnappte den kleinen Wichtel an seinen dünnen Oberärmchen und sah ihm tief in die Augen. „Ruhig, Fips. Was möchtest du mir sagen?“ Fips war so aufgeregt, dass er immer noch auf seinen Zehenspitzen auf und ab dribbelte. „D-D-Dipsy kann doch zu den K-K-Kindern fliegen, die für die P-P-Ponys zu weit weg sind!“ Dipsy sprang auf und scharrte begeistert mit den Hufen. Eusebio kratzte sich am Kopf und überlegte. „Das ist eine grandiose Idee. Morgen holen wir den unendlichen Rucksack vom Christkind und dann werdet ihr beide unzählige Kinder glücklich machen.“ „Waaaaas? Ich d-d-darf mit D-D-Dipsy fliegen?“ Eusebio klopfte Fips anerkennend auf die Schulter. „Natürlich! Wer denn sonst? Du bist der Einzige, der zwischen ihre Flügel passt. Außerdem war es deine Idee! Und jetzt bring dein Pony … äh … Einhorn in den Stall und dann ab ins Bett! Ihr beide müsst ausgeschlafen sein für eure große Tour!“

Und so kam es, dass das Weihnachtsfest auch in jenem Jahr, als das Christkind krank war, keineswegs ausfallen musste, sondern ganz großartig wurde. Dipsy, die Wichtel und die Ponys erfüllten ihre Aufgabe mit Leidenschaft und hatten dabei mindestens ebenso viel Freude wie die Kinder. Es war einfach so richtig schön anders. Und das Christkind, dem es bereits wieder etwas besser ging, freute sich schon aufs nächste Jahr, weil es jetzt wusste, mit welch toller Unterstützung es rechnen durfte.

Elo Blau ist Autorin und Ghostwriter. Vom Sternzeichen ist sie (Schreib-)Fisch und daher im Meer der schönen Worte zu Hause. In fließend sarkastischen Gewässern fühlt sie sich besonders wohl, dort schlummert aktuell auch ihr Erstling in Sachen Kleinkunst. Sie spinnt generell. Universell. Rote Fäden!

Foto: Kathrin Mautner Photography mautner.cc