Bitte psssst!

von Lisa Keskin

Es ist kurz vor Weihnachten. Engelchen Britta ist mit dem Christkind unterwegs in der Stadt, um die letzten Wunschzettel der Kinder einzusammeln. Sie ist heute müde und gereizt – der Trubel der Großstadt macht ihr schwer zu schaffen. Ständig fahren Autos vorbei, aus Lautsprechern dröhnt viel zu laute Weihnachtsmusik und die Geruchswolke aus Punsch und Glühwein, die über den Weihnachtsmärkten hängt, verursacht ihr Kopfschmerzen und Übelkeit. Erschöpft lässt sich Britta auf einen Schneehaufen plumpsen und seufzt.

Der Heiligenschein hängt schief auf ihrem Kopf und sie wäre am liebsten schon wieder zurück im Himmel, wo es ruhiger ist und sie auch mal im Trainingsanzug herumlaufen kann. Den hat sie sich voriges Jahr vom Christkind gewünscht. Einen rosa Trainingsanzug aus Teddyplüsch, der so weich und flauschig ist, dass man das Gefühl hat, man würde die ganze Zeit kuscheln. Doch wenn sie mit dem Christkind in weihnachtlicher Mission auf die Erde reist, muss sie sich hübsch anziehen – auch, wenn das blöde Kleid kratzt.

Als sie so ihren trüben Gedanken nachhängt, hört sie eine Stimme. „Was ist denn mit dir los?“ Ein rothaariger kleiner Bub hockt vor ihr, vielleicht sieben Jahre alt, mit einer Nase voller Sommersprossen und einer dicken blauen Daunenjacke. „Bist du ein Engel?“

Britta blickt erschöpft zu ihm auf. „Ja, ich bin ein Hilfsengel. Ich helfe dem Christkind, und es ist eine Ehre, mit auf die Erde kommen zu dürfen. Aber ich bin so müde! Hier ist so viel los, es ist laut und auch die Lichter tun mir in den Augen weh. Ich weiß auch nicht – ich glaub‘, mit mir stimmt etwas nicht!“

Der kleine Junge sieht sie verständnisvoll an. „Ich bin der Seppi. Ich weiß genau, wie es dir geht. Wenn ich mit meinen Geschwistern spiele, dann wird es mir meistens auch bald zu viel und zu laut. Meine kleine Schwester Lotti hat so eine laute Stimme, und wenn sie quietscht, dann tut mir das in den Ohren weh. Auch, wenn Mama mit ihren Kochtöpfen scheppert oder Papa wieder einmal seine laute Musik hört. Einmal hab‘ ich mir gedacht, ich mach‘ jetzt einfach auch Lärm, damit sie merken, wie unangenehm das ist. Also bin ich mit meiner Trommel durch die Wohnung gelaufen und habe laut gesungen. Aber die haben das alle nur lustig gefunden. Es hat sie nicht gestört! Ich habe dann auch gedacht, so wie du jetzt, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist.“

Das Engelchen schaut Seppi mitleidig an. „Du kennst das auch?“

Seppi nickt. „Ja. Und in meiner Schule gibt es noch ein paar andere Kinder, die so sind wie ich. Ein Mädchen, dem immer schlecht wird, wenn jemand sein Pausenbrot auspackt. Sie sagt, dass sie den Geruch nicht aushält. Und ein Bub aus meiner Klasse geht in der Pause immer hinaus ins Freie, wo keine anderen Kinder sind. Ich begleite ihn manchmal in den Schulhof. Dann sitzen wir einfach nur da und bald geht es uns besser.“

„Und zu Hause? Was machst du da, wenn es so laut wird?“

„Ich gehe in mein Zimmer. Meine Eltern haben mittlerweile verstanden, dass Lärm für mich unangenehm ist, deshalb habe ich das ruhigste Zimmer in der Wohnung bekommen. Und wenn die anderen laut sind, dann setze ich mich auf mein Bett und lese ein Buch. Ich mag lesen! Da kann ich mir die Welt so laut oder leise denken, wie ich will. Das hilft mir sehr!“

Diese Idee gefällt Britta besonders gut. „Danke, Seppi! Jetzt geht es mir schon besser! Es tut sehr gut, mit jemandem zu sprechen, der weiß, wie das ist.“

Der Junge lächelt das Engelchen an: „Ich wünsche mir zu Weihnachten, dass du einen Platz findest, an dem es dir gut geht! Und für heute helfen dir die da vielleicht ein bisschen, die hab‘ ich für den Notfall immer dabei!“ Er gibt Britta ein kleines Schachterl mit Ohrstöpseln. „Ich muss gehen – meine Eltern rufen mich!“ Dann steht er auf, läuft auf eine blonde Frau zu und wirft sich in ihre Arme.

Britta winkt ihm noch einmal zu, dann probiert sie gleich Seppis Geschenk aus. Aaaahhhh herrlich – gleich viel ruhiger! Motiviert macht sie sich auf die Suche nach ihrem Weihnachtsteam. Es gibt noch viele Wunschzettel einzusammeln!

Zurück im Himmel lobt das Christkind die kleine Britta, die sich gleich nach der Rückkehr in ihren rosa Flausch-Trainingsanzug gekuschelt hat, für ihre tatkräftige Unterstützung. „Du warst sehr fleißig heute! Schön, so ein tapferes Engelchen an seiner Seite zu haben. Und morgen geht’s so richtig los!“ Britta reißt erschrocken die Augen auf, sie ahnt nichts Gutes. ‚Was geht morgen so richtig los? Bitte nicht schon wieder hinunter in den Wirbel.‘ Das Christkind schmunzelt und legt ihr behütend den Arm um die Schultern. „Keine Sorge, mein Engelchen. Mir ist aufgefallen, dass der heutige Einsatz eine große Herausforderung für dich war und du dich in dem regen Treiben auf Erden so gar nicht wohl gefühlt hast. Ich kann das gut verstehen, auch mir wird es manchmal zu viel. Dann brauche ich ein paar ruhige Minuten auf einer einsamen Wolke, um wieder Kraft tanken zu können.“ Britta nickt. ‚Das Christkind kennt das also auch…‘

„Drum habe ich für morgen einen wichtigen Spezialauftrag für dich, bei dem ich mir vorstellen könnte, dass du ihn sehr magst.“ Britta wird immer neugieriger, während das Christkind fortfährt: „Ich habe dir die Wunschzettel aller Kinder herausgesucht, die sich zu Weihnachten Bücher wünschen. Bei vielen steht gar kein bestimmter Titel drauf, sondern nur in kurzen Worten, was sie gerne lesen würden – etwa Tiergeschichten, spannende Abenteuer oder auch Comics. Da du ja selbst so gerne liest und dich gut auskennst, hab‘ ich mir gedacht, du gehst morgen in die große Himmelsbibliothek und suchst für jedes Kind das passende Buch aus.“ Das Engelchen ist begeistert und fällt dem Christkind um den Hals, das vor Rührung über Brittas Freude sogar ein kleines Tränchen im Auge hat. „Nun aber ab ins Bett, kleiner Engel! Heute war ein anstrengender Tag und morgen musst du ausgeschlafen sein!“ Das Christkind lächelt zufrieden, wohl wissend, sowohl Britta glücklich gemacht als auch Seppis Wunsch erfüllt zu haben.

Lisa Keskin ist Ghostwriter, Lehrgangsleiterin der Ghostwriting Academy und “Ghostmama” für die Absolvent:innen und Teilnehmer:innen der Ghostwriting Academy.

Sie hat mittlerweile über 40 Bücher begleitet oder geschrieben.

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