Henriettes großer Wunsch

von Christine Auer

Vorsichtig reißt Marie einen Klebestreifen ab und drückt ihn auf das Papier, aus dem sie etwas für die Weihnachtsausstellung basteln möchte. Doch schon wieder macht der Klebestreifen Wellen. Als sie versucht, ihn abzulösen, geht ein Stück vom Papier mit ab und hinterlässt eine weiße Stelle. Tränen sammeln sich in Maries Augen. „Ich kann nicht basteln. Nicht einmal die blöden Klebedinger halten.“

Papa legt sein Buch zur Seite. „Soll ich dir helfen?“, fragt er.
Marie schüttelt den Kopf. Dann überlegt sie. „Wie schafft es eigentlich das Christkind, so viele Geschenke zu verpacken?“
Papa klopft neben sich auf das Sofa. „Zufällig weiß ich das ganz genau. Hast du schon einmal von Henriette gehört?“ Marie kuschelt sich an Papa und er beginnt zu erzählen:

Es war bereits Dezember und der Erdboden war bedeckt mit einer dicken Schneehaube. Der Wind pfiff durch die Bäume und es war bitterkalt. Aber tief unter der Erde, wo Henriette lebte, war es kuschelig warm. Vorsichtig schälte sich Henriette aus ihrem weichen Kokon und sah sich um. Niemand außer ihr schien wach zu sein. Gut so! In diesem Moment hörte sie die Stimme ihrer Mutter: „Was machst du da?“ Verschlafen verschränkte ihre Mutter die Arme, mit den restlichen sechs Beinen klopfte sie ungeduldig auf den Boden. „Also?“
Verlegen trat Henriette von einem Bein aufs andere – und bei acht Beinen dauerte das ganz schön lange. „Es ist doch bald Weihnachten … und das Christkind braucht vielleicht Hilfe“, sagte sie kleinlaut.
„Henriette“, die Stimme ihrer Mutter wurde weicher, „du bist eine Spinne. Wir schlafen im Winter. Du in deinem warmen Kokon, Papa und ich hier in der gemütlichen Höhle. Warum sollte das Christkind deine Hilfe brauchen?“
Henriette dachte an all die Weihnachtsbücher, die sie gelesen hatte. „Immer dürfen nur Rentiere oder Waldtiere bei den Weihnachtsvorbereitungen helfen. Das ist unfair. Deswegen werde ich die allererste Weihnachtsspinne.“ Zur Bekräftigung ihrer Worte stampfte sie fest mit den Füßen auf – mit allen acht. Die Kokons der anderen Spinnenkinder begannen zu wackeln.
„Pssst, du weckst noch deine Geschwister auf. Komm, krabbel zurück ins Bett“, flüsterte ihre Mutter.
„Nein, das geht nicht. Ich habe dem Christkind einen Brief geschrieben, wie die Kinder in den Büchern. Wir sind für heute verabredet.“ Henriette zog eine rote Weihnachtshaube mit weißem Bommel hinter einem Stein hervor.

Nun musste ihre Mutter doch schmunzeln. „Also gut, ich begleite dich nach oben. Aber wenn das Christkind nicht kommt, gehst du ohne Murren wieder ins Bett.“
Henriette nickte.
Oben angekommen, beobachtete sie konzentriert den Nachthimmel. Doch nichts Ungewöhnliches war zu sehen. Nach einiger Zeit drückte ihre Mutter Henriette fest an sich und sagte sanft: „Na komm, Zeit wieder ins Bett zu gehen.“
Traurig ließ Henriette den Kopf hängen. In diesem Moment erhellte ein gleißender Lichtstrahl den Himmel. Vor ihnen erschien eine Gestalt mit goldenen Flügeln und sagte: „Bist du Henriette? Ich habe gehört, du möchtest mir helfen.“
Das Christkind!
Aufgeregt zappelte die kleine Spinne mit den Beinen. „Ja, ich möchte eine Weihnachtsspinne werden. Im Winter habe ich sowieso nichts zu tun außer schlafen. Du hast ja noch gar keine Weihnachtsspinne und ich bin die beste Geschenke-Verpackerin der ganzen Welt.“ Zur Bestätigung ließ sie ihre acht Beine durch die Luft sausen.
Das Christkind überlegte kurz. Dann wandte es sich an Henriettes Mutter. „Das ist eine hervorragende Idee. Darf ich Henriette mit in die Himmelswerkstatt nehmen? Ich bringe sie rechtzeitig zum Ende des Winterschlafs zurück. Ich habe nämlich wirklich jedes Mal Schwierigkeiten mit diesen Klebestreifen.“

Marie kichert. „Das Christkind kann das mit den Klebestreifen auch nicht so gut.“
Papa drückt ihr einen Kuss aufs Haar und sagt: „Jeder von uns ist eben in etwas Anderem so richtig gut. Du musst nur Geduld haben, um herauszufinden, was es ist.“ „Wie die Weihnachtsspinne.“ Marie überlegt. „Glaubst du, Henriette ist jetzt gerade auch in der Himmelswerkstatt und verpackt Geschenke?“
Als Papa nickt, springt Marie mit großen Augen auf. „Dann male ich ein Bild von Henriette für die Weihnachtsausstellung.“
„Das ist eine sehr gute Idee“, sagt Papa schmunzelnd.

Christine Auer studierte Psychologie und Jus und arbeitet heute als Autorin und Trainerin. Seit 2016 schreibt sie Bücher für Kinder und Jugendliche, verfasst Lesegeschichten für die Schülerzeitschriften von „Gemeinsam Lesen“, hält Schreibwerkstätten für Kinder, engagiert sich in der Leseförderung und entdeckt überall neue Ideen für Geschichten. Ihre Texte wurden mit verschiedenen österreichischen Preisen ausgezeichnet (Dixi Kinderliteraturpreis 2015, Mira Lobe Stipendium 2020). Sie lebt und arbeitet in Wien – mit ihrer Familie und zwei Katzen, die am liebsten auf der Computertastatur schlafen.

www.christineauer.at

Foto © Martin Ludl