Das Ehren-Rentier
von Angelika Oswald
von Angelika Oswald
Es ist mitten in der Nacht. Norbert, das kleine Nashorn, kann nicht einschlafen. Ganz eng an seine Mama gekuschelt liegt er mit ihr unter einem großen Dornenbusch in der Savanne, seinem Zuhause. Obwohl er den ganzen Tag mit seinen Freunden im Schlammloch getobt hat und ein Wettrennen nach dem anderen mit ihnen gemacht hat, ist er einfach nicht müde. Ganz im Gegensatz zu den anderen aus seiner Herde, die alle friedlich in der Umgebung schlummern.
Er beobachtet den dunklen Nachthimmel und versucht angestrengt die abertausenden Sterne zu zählen, als auf einmal ein heller Blitz über den Himmel schießt und mit einem lauten „Kawumm!“ hinter dem nahegelegenen Felsenhügel einschlägt. Norbert erschrickt fürchterlich. Was war denn das?
Seine Herde hat offensichtlich nichts bemerkt, sie schlafen immer noch alle tief und fest. Unglaublich bei diesem Höllenlärm! Obwohl Norbert ein klein bisschen Angst hat, schleicht er sich ganz leise von seinem Schlafplatz weg, um nachzuschauen, was passiert ist. Als er den Steinhaufen umrundet hat, sieht er es: Ein großer roter Schlitten, der mit seinen Kufen ein bisschen schief im Sand steckt. Vor das Gefährt sind neun komisch aussehende, ein bisschen moppelige Antilopen oder so etwas Ähnliches gespannt. Sie tragen alle kleine Glöckchen um den Hals. Daneben steht ein dickbäuchiger Mann mit einem langen weißen Rauschebart, einem roten Anzug, schwarzen Stiefeln und einer Zipfelmütze auf dem Kopf. Er beugt sich zu einem der Tiere hinunter und begutachtet mit ernster Miene dessen Fuß, während er sich gedankenverloren am Kopf kratzt.
„Knirsch-Knack“ Oje, Norbert ist auf einen kleinen Ast getreten. Der alte Mann schreckt hoch und dreht sich zu Norbert um. „Huch, wer bist du denn?“ fragt er. Norbert überlegt kurz davonzulaufen, aber nein, er ist einfach zu neugierig. „Ich heiße Norbert. Und wer bist du?“ „Kennst du mich etwa nicht?“ antwortet der Fremde. „Ich bin der Weihnachtsmann und das sind meine Rentiere.“ Weihnachtsmann? Von so jemandem hat Norbert noch nie gehört. „Was machst du denn hier in der Savanne?“ fragt Norbert vorsichtig. „Heute ist Weihnachten und ich bin mit meinem Schlitten unterwegs, um den Kindern auf der ganzen Welt ihre Geschenke zu bringen. Wie du dir vorstellen kannst, bin ich sehr in Eile und habe daher wohl eine Kurve zu eng genommen. Dabei hat sich Rudolph, mein Lieblingsrentier den Fuß verknackst und deswegen sind wir hier abgestürzt. Ich weiß wirklich nicht, was ich jetzt machen soll. Mit dem verknacksten Fuß kann Rudolph den Schlitten unmöglich weiterziehen und wir kommen nicht mehr von der Stelle.“ Traurig streichelt der Weihnachtsmann seinem Rentier über den Kopf.
„Und das Allerschlimmste ist, dass die Kinder dieses Jahr wohl keine Weihnachtsgeschenke bekommen werden. Das bricht mir das Herz. Sie verlassen sich doch auf mich!“ Norbert weiß weder, was Weihnachten ist, noch, was es mit den Geschenken auf sich hat, aber er will helfen. Er hat sich vor kurzem auch eine spitze Dorne eingetreten. Das hat schrecklich wehgetan, und er war froh, als einer seiner Freunde ihm geholfen und den Dorn schnell wieder herausgezogen hat. „Kann ich etwas tun?“ fragte Norbert.
„Ich glaube nicht, aber danke, kleines Nashorn. Ich werde wohl warten müssen, bis Rudolphs Fuß wieder gesund ist. Dann ist Weihnachten aber wahrscheinlich schon wieder vorbei.“ antwortet der Weihnachtsmann niedergeschlagen.
„Ich kann doch mit deinen Rentieren den Schlitten ziehen! Ich bin der schnellste Läufer in meiner Herde und ich bin superstark!“ Norbert ist ganz aufgeregt. Der Weihnachtsmann zieht eine Augenbraue hoch und denkt nach. „Ich glaube, du könntest tatsächlich meine Rettung sein, kleines Nashorn. Okay, wir probieren es einfach!“
Er nimmt Rudolph sein Glöckchen ab, hebt ihn hoch und platziert das verdutze Rentier kurzerhand auf die Sitzbank seines Schlittens. „Hier, Norbert. Das ist ein magisches Glöckchen. Wenn du es um den Hals trägst, kannst du fliegen und den Schlitten mit uns ziehen.“ Norbert kann sein Glück kaum fassen. Er wird fliegen! Mit dem Weihnachtsmann und seinen Rentieren! Schnell ist das kleine Nashorn vor den Schlitten gespannt und ab geht die wilde Fahrt. Sie fliegen über die Savanne, über Hügel, Täler, Meere und über viele Städte, in denen sie die Geschenke gerade noch rechtzeitig ausliefern können. Sie haben zwischendurch sogar noch Zeit, ein Ersatzrentier vom Nordpol abzuholen. Norbert hat in seinem Leben noch nie so viel Spaß gehabt! Er genießt den schnellen Fahrtwind, der ihm um sein kleines Horn weht und das leise Klingen des Glöckchens um seinen Hals. Viel zu schnell sind alle Pakete verteilt und der Weihnachtsmann steuert wieder Richtung Savanne.
Sie landen sicher hinter dem Felshügel. „Vielen, vielen Dank, kleines Nashorn! Ohne dich hätte ich es nicht geschafft. Du hast Weihnachten gerettet und viele Kinder sehr glücklich gemacht!“ Norbert ist sehr stolz und gleichzeitig auch ein bisschen traurig. Das Abenteuer ist schon wieder vorbei. Der Weihnachtsmann braucht seine Hilfe nun nicht mehr und es ist Zeit für den Abschied.
Gerade als Norbert sein Glöckchen abnehmen will, sagt der Weihnachtsmann jedoch: „Nein, nein. Weil du so mutig und hilfsbereit warst, ernenne ich dich hiermit zum Ehren-Rentier. Du kannst das Glöckchen behalten. Wer weiß, wann ich das nächste Mal deine Hilfe brauche. Dann bist du schon perfekt ausgerüstet. Vielleicht ist es schon beim nächsten Weihnachtsfest wieder so weit!“ Norbert ist überglücklich. Er wird die kleine Glocke gut verstecken und wie einen Schatz hüten, damit er jederzeit bereit ist, wenn der Weihnachtsmann wiederkommt.
Als er zurück zu seinem Schlafplatz schleicht, sieht er den Weihnachtsmann mit seinem Schlitten davonfliegen und hört ihn rufen: „Frohe Weihnachten, kleines Nashorn! Wir sehen uns bald wieder!“ Norbert kuschelt sich wieder an seine Mama und schläft sofort ein. Die Arbeit als Ehren-Rentier hat ihn richtig müde gemacht.