Der Weihnachtsengel

von Valerie Bock

Die Weihnachtszeit ist wohl für jedes Kind die aufregendste Zeit des ganzen Jahres. Alles leuchtet und funkelt, der Duft von frischen Keksen schwebt durchs Haus und jeden Tag gibt es eine kleine Überraschung aus dem Adventkalender, durch die das Warten aufs Christkind versüßt wird. Könnte es schöner sein?

Doch es gab ein kleines Mädchen, dessen Weihnachtsfreude zu bröckeln drohte: Penelope.

Als Penelope am zweiten Adventsonntag aufwachte, war zunächst alles wie gewohnt. Sie streckte und reckte sich, schlüpfte in ihre Regenbogenplüschhausschuhe und machte sich auf den Weg ins Badezimmer.

Ihr dunkles lockiges Haar war noch ganz zerzaust, ihre Augen noch voller Schlafstaub, den das Sandmännchen am Abend zuvor verteilt hatte. „Also los!“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Gesicht waschen, Haare bürsten, Zähne putzen und dann auf in die Küche, in der Mama schon mit dem Frühstück wartete.

Dort angekommen, spürte Penelope jedoch, dass etwas anders war. Es war kein anderer Geruch, es lag auch nicht am Frühstück. Irgendetwas stimmte mit Mama nicht. Und wo war eigentlich die feuchte, kühle Stupsnase, die sie sonst jeden Morgen so freudig begrüßte?

„Mama“, fragte Penelope ganz erschrocken, „wo ist Benji?“

„Komm, setz dich zu mir, Liebling“, sagte Mama. „Benji ist weggelaufen, er hat wohl ein Loch im Zaun gefunden. Aber ich bin mir ganz sicher, wir werden ihn finden.“ Penelopes Augen füllten sich mit Tränen, doch Mama strahlte so viel Zuversicht aus, dass sie sich, noch bevor die erste Träne kullern konnte, die Augen mit ihrem Ärmel abtrocknete und hoffnungsvoll zu Mama aufblickte.

Kurze Zeit später machten sich die beiden schon an die Arbeit. Ein Foto von Benji war schnell gefunden, sein blondes Fell wirkte darauf sogar noch flauschiger. Mit seinen braunen Augen und spitzen Ohren schaute er freudig in die Kamera. Mama half Penelope, einen Flyer zu drucken. „Die sind toll geworden!“, rief Penelope aufgeregt. „Wir werden ihn sicher ganz schnell finden!“

Mama stimmte ihr mit einem Lächeln zu und die beiden machten sich bereit, um in die Winterkälte hinauszustapfen.

Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen. Penelope wollte so gerne in den Schnee spielen gehen, doch sie war auf einer wichtigen Mission. Sie hielt mit ihren in Winterhandschuhen eingepackten Händen die Zettel fest, und Mama befestigte die Flyer mit Tacker und Klebeband an Bäumen und Zäunen. Das war aber leider nicht so einfach wie erwartet: Alles war vereist und der kalte Wind blies stark. Penelope wurde wieder traurig, aber Mama gab ihr Bestes, um die Flyer anzubringen.

Auf einmal kam eine so starke Windböe, dass Penelope die Zettel nicht mehr festhalten konnte und der Wind riss sie ihr aus den Händen. „Oh nein!“, schrie sie und lief hinterher. „Penelope, warte!“, rief Mama ihr nach, doch das hörte das kleine Mädchen in diesem Moment nicht – sie brauchte doch die Zettel unbedingt, um Benji zu finden. Sie lief und lief, doch der Wind trug die Flyer so schnell fort, dass sie es einfach nicht schaffte, sie wieder einzusammeln. Entkräftet blieb sie stehen und richtete ihren Blick in den Himmel, in den die Zettel davonflatterten.

„Hallo“, sagte auf einmal eine Stimme. „Du hast wohl was verloren!“ Eine Frau stand vor ihr und hielt einen Flyer in der Hand. Sie war ganz in Weiß gekleidet und unter ihrer Mütze kringelten sich blonde Locken hervor. Da kam auch schon Penelopes Mama: „Penelope! Ich weiß du machst dir Sorgen um Benji, aber du darfst nicht einfach so weglaufen.“ „Ich weiß, Mama“, antwortete Penelope, „es tut mir leid. Aber schau mal: Die Frau konnte noch einen Zettel fangen!“

„Dein Hund ist also wegelaufen? Das tut mir sehr leid. Hier ich habe etwas für dich.“ Die Frau griff in ihre Jackentasche und nahm einen weißen funkelnden Stein heraus. „Das ist ein Wunschstein. Bevor du schlafen gehst, nimmst du ihn ganz fest in die Hand, drückst ihn an dein Herz und denkst ganz, ganz fest an Benji. Und dann legst du den Stein unter deinen Kopfpolster. Das machst du jeden Abend, und bald wird dein Hund wieder bei dir sein.“ Penelope streckte die Hand aus und die Frau gab ihr den Stein. „Danke“, sagte das Mädchen und drehte sich zu Mama, um ihr den schönen Stein zu zeigen. Als die beiden sich wieder der Frau zuwenden wollten, war diese verschwunden. Merkwürdig, dachte sich Penelopes Mama. Es war mittlerweile so bitterkalt und der Wind wurde immer stärker, sodass die beiden sich auf den Heimweg machten.

Als Penelope an diesem Abend im Bett lag, nahm sie den Stein fest in beide Hände, drückte ihn an ihr Herz und nutzte all ihre Gedankenkraft, um an Benji zu denken.

Die Tage vergingen. Penelope und ihre Mama versuchten weiter, die Flyer zu verteilen, aber das Wetter war nicht auf ihrer Seite. Penelope hielt sich an das, was ihr die Frau gesagt hatte. Abend für Abend nahm sie ihren Wunschstein und konzentrierte sich so gut sie nur konnte.

Und dann, in der Samstagnacht, der Nacht vor dem vierten Advent, hatte Penelope einen Traum. Sie sah die Frau in Weiß mit ihren blonden Locken und Benji war auch da! Aber wo waren sie? Der Ort kam Penelope bekannt vor, aber wo war das nochmal? Huch – mit rasendem Herzen riss es sie aus dem Schlaf. „Mama!“, rief sie und stolperte aus dem Bett. „Mama!“ Penelope rannte den Flur entlang und ihre Mama kam ihr schon erschrocken und verschlafen entgegen.

„Mama! Ich weiß es! Ich weiß, wo Benji ist!“ Mama blickte sie ganz verwirrt an und Penelope erzählte von ihrem  Traum. Sie war so aufgeregt, dass Mama zustimmte, sich auf die Suche zu machen. Sie fuhren in einen nahegelegenen Wald, wo sie oft spazieren gingen. Dort gab es eine Lichtung mit einem Spielplatz. Den hatte Penelope in ihrem Traum gesehen. Mit Taschenlampen ausgerüstet machten sie sich auf die Suche. „Benji! Beeeeenjiiiiii!“, riefen beide. Und auf einmal hörten sie etwas. War das ein Bellen? Wo kam das her? Da! Da war es schon wieder! Und dann kam Benji, voller Schneeklumpen in seinem Fell, aus einem Gebüsch angelaufen und sprang in Penelopes Arme. Sie war so glücklich, ihren geliebten besten Freund endlich wieder in die Arme schließen zu können!

Zuhause gab es erst einmal ein Bad für Benji und dann einen Berg Leckereien. Penelope hätte gerne gewusst, wie Benji dorthin gekommen war und was er dort gemacht hatte, aber die Freude übertraf ihre Neugierde.

Ob sie ihn auch ohne die Frau und den Wunschstein gefunden hätte? Wenn Penelope von diesem Abenteuer erzählt, nennt sie die Frau ihren Weihnachtsengel. Und ihr Wunschstein ist ihr das Zweitliebste auf der Welt geworden, denn das Liebste sind Mama und Benji!

Valerie Bock ist eine Gastautorin.
Hauptberuflich ist sie Hundetrainerin, und du findest sie hier.