Traumhafte Weihnachten

Barbara Miklosch

„Happy happy Birthday, Süße!“, ruft Elena freudig, nachdem sie und Mano ein lauthals und falsch gesungenes Happy Birthday zum Besten gaben. Stolz überreicht sie ihrer Freundin Kristin einen Schokoladenmuffin. „Für dich!“

Sie hat heute Morgen Glück gehabt beim Betteln, der nette Polizist, der hie und da etwas springen ließ, holte sich ein Frühstück und lud sie ein sich ebenfalls etwas zu bestellen. Wie immer erkundigte er sich nach Elenas Befinden und danach wie es den anderen Beiden ging. Ebenfalls wie immer, bedankte sie sich und versprach, dass sie drei auf sich aufpassen würden.

Kristin bricht den Muffin in drei fast gleich große Stücke und steckt ihr Stück direkt in den Mund. Mampfend sagt sie zu ihren Freunden: „Ein Jahr ist es jetzt her, dass ihr mich gefunden habt, hinter dem Stephansdom. Unfassbar, was wir in diesem Jahr alles gemeinsam erlebt haben!“ Nachdenklich reicht sie Elena und Mano jeweils ein Stück ihres Muffins. Die beiden lassen sich nicht zweimal bitten. „Das war dein Glück, hätten wir dich nicht gefunden und in unseren Unterschlupf gebracht, wärst du mit ziemlicher Sicherheit erfroren“, murmelt Mano und leckt sich genüsslich die Schokolade von seinen Fingern. Kristin erinnert sich noch sehr gut an diesen schicksalhaften Tag. Es war der Tag, an dem sie ihr Gedächtnis verlor. Sie kann sich bis heute nicht daran erinnern, wer sie ist, woher sie kommt und was vor dem Erwachen in der Kälte geschehen ist. Selbst an ihren Namen kann sich die hübsche junge Frau nicht erinnern. Den Namen Kristin hat sie sich ausgesucht, damit sie sich nicht ganz so verloren fühlt. Irgendwie kam ihr der Name damals vertraut vor. Seit jenem Tag lässt sie das Gefühl nicht los, dass sie eigentlich eine wichtige Aufgabe zu erledigen hätte, doch es will ihr einfach nicht einfallen, welche das sein soll.

Elena und Mano sammelten damals sogar Geld, um Flyer drucken zu lassen, in der Hoffnung, dass Kristins Familie sie darauf wieder erkennt und sie zu sich holt. Manche der Zettel hängen heute noch an ihrem Platz, doch niemand scheint die junge Frau zu vermissen. Niemand hat sich im letzten Jahr gemeldet. Auch bei der Polizei konnte ihr niemand helfen. Wenn keine Vermisstenanzeige vorliegt und man weder seinen Namen noch sein Geburtsdatum oder sonst irgendeinen Anhaltspunkt weiß, ist die Lage ziemlich aussichtslos.

„Komm, lass uns heimgehen. Es wird dunkel und ich friere erbärmlich”, sagt Elena, hängt sich bei Kristin und Mano ein und lenkt die beiden Richtung Unterschlupf. Monate bevor sie Kristin fanden, hatten sich die beiden Ausreißer aus Tirol in einem alten Kellerabteil eines Eigentumshauses „eingerichtet“. Der Keller ist sehr verwinkelt und im hintersten Bereich stand offenbar seit vielen Jahren eines der Abteile leer. Nach und nach brachte das Pärchen Decken, Lebensmittel und Kleidung dorthin. Dort verbrachten sie die Nächte zu zweit, bis sie an jenem Tag auf Kristin stießen. Keiner der drei hätte damals gedacht, dass sie ein Jahr später zu dritt in diesem Kellerabteil wohnen würden. Doch das Zusammenleben der drei funktioniert gut und reibungslos. Manchmal hören ihre Mitbewohner Kristin in der Nacht weinen. Sie tut ihnen unendlich leid. Deshalb tüfteln sie bereits seit einiger Zeit an einem Plan. Sie möchten Kristin aufheitern. Weihnachten steht vor der Tür und gerade zu diesen Feiertagen ist es üblich, die Familie zu sehen, gemeinsam zu feiern und sich zu beschenken.

Kristin hat offenbar niemanden, mit dem sie diese Feiertage verbringen kann. Daher wollen Elena und Mano ihre Freundin von der schmerzlichen Erkenntnis, niemanden zu haben, der sich um sie sorgt, so gut wie möglich ablenken. Zwei Tage später ist es soweit. Das Trio spaziert zu Fuß zum Rathausplatz. Hier findet jedes Jahr vor Weihnachten einer der schönsten und größten Christkindlmärkte Europas statt. Fasziniert und neugierig schlendern die Freunde von Stand zu Stand. Elena und Mano haben seit Wochen immer ein paar Euro zu Seite gelegt und überraschen Kristin nun mit einer Tasse heißem Früchtepunsch und einer unglaublich leckeren Ofenkartoffel mit Knoblauchsauce, die sie sich teilen. Kristin fühlt sich wie im Schlaraffenland. Sie spazieren an bunt geschmückten Ständen vorbei, ein angenehmer Duft nach Weihrauch, süßem Essen und Punsch vermischt sich in der Luft. Glitzernder Weihnachtsschmuck, handgeschnitzte Holzfiguren, selbstgemachte Seifen und vieles mehr bestaunen die Freunde. Als es Abend wird und zu dämmern beginnt, ist Kristin vollends begeistert. „Im Dunkeln sieht der Markt ja noch viel faszinierender aus!“, quietscht sie vergnügt. „Danke, ihr zwei. Für alles!“

Zum Abschluss wollen sich die Drei noch den riesigen Christbaum direkt vor dem Rathaus ansehen. Bewundernd stehen sie vor der über hundert Jahre alten Tanne aus dem Waldviertel, die festlich geschmückt worden ist. Plötzlich merkt Kristin, wie ihr übel wird. Der intensive Geruch von Zimt steigt ihr in die Nase und in dem Augenblick, in dem sie sich nach einer Sitzgelegenheit umsehen will, fällt ihr Blick auf den Christbaumschmuck, der auf Augenhöhe vor ihr hängt. Es ist ein Christkind, ein Engel mit goldenen Locken und weißen Flügeln. Kristin sieht sich das Gesicht des Schmuckes genauer an und gerät nun vollends aus der Fassung. Hat mir dieses Christkind gerade zugezwinkert? Bevor sie sich setzen oder ihren Freunden ihre Notlage erklären kann, fällt die junge Frau rücklings auf den Boden. Sie ist ohnmächtig. Dabei ist ihr während des Fallens alles wieder eingefallen. Die Figur hat ihre gesamte Erinnerung zurückgebracht. Sie wusste augenblicklich wieder, wer sie ist, was ihre Aufgabe ist und wo sie hingehört. Unbedingt wollte sie es noch ihren Freunden Elena und Mano erzählen, doch dies sollte ihr verwehrt bleiben.

Schweißgebadet schrickt Kristin aus dem Schlaf. Phuu, es war alles nur ein Traum. Wie zur Bestätigung sieht sie sich in ihrem Atelier um. Ich bin wieder bei der Arbeit eingeschlafen. Es wird Zeit für Urlaub. Nachdenklich krault sie ihren beiden Katzen, Elena und Mano, die Köpfe. Sie haben sich offenbar in der Nacht auf ihren Schoss gekuschelt. Nach der Morgentoilette denkt Kristin kurz nach. Sie muss die Strecke bis ins kleinste Detail planen, um alle Geschenke rechtzeitig bei den Kindern abzuliefern. Vor allem soll das richtige Geschenk beim richtigen Kind unter dem Christbaum liegen. Das erfordert präzise Planung und ein ausgeklügeltes Ordnungssystem. In Gedanken versunken legt sie die den Christbaumschmuck, der vor ihr auf dem Boden liegt und sie selbst darstellt, zur Seite. Ihr ist gar nicht aufgefallen, dass die Katzen die Figur schon wieder vom bereits geschmückten Baum gefegt haben.

Dann krempelt Kristin die Ärmel hoch. ‚Es ist noch viel zu tun bis Heilig Abend. Nicht trödeln, Madame Christkind!‘  denkt die hübsche junge Frau. Motiviert strafft sie ihre Flügel, bindet ihre blonden Locken zusammen und macht sich an die Arbeit.

Barbara Miklosch ist Autorin, Ghostwriter und Lehrgangsleiterin von Mind Over Matter – Lehrgang für Mental- und Resilienztraining in Wien.