Die gute Tat

Elisabeth Hassek-Eder

Die Abenddämmerung setzte schon ein und der Wind trieb trägen Schneeregen gegen die Fensterscheiben der Wärmestube. Anton brachte seinen leeren Suppenteller zurück zur freundlichen jungen Frau, die in diesem Jahr mit zwei Kolleginnen die Weihnachtsschicht übernommen hatte. Sie lächelte ihn an: »Danke, Sie bleiben doch auch über Nacht? Heute sind im Schlafsaal der Kirche noch Betten frei.« Ihr Blick war offen und frei von Mitleid. Beinahe hätte er zugestimmt, nur um ihr eine Freude zu machen. Dann brummte er aber doch: »Nein danke. Das ist nichts für mich. Arno und ich sind lieber für uns.« Ihr Blick folgte seiner Handbewegung zur Tür, wo Antons Hund schon geduldig auf ihn wartete. Arno war eine undefinierbare Promenadenmischung, genauso wenig einzuordnen wie sein Besitzer. Die junge Frau sah ihn verständnisvoll an und reichte ihm ein kleines Päckchen: »Dann wünsche ich Ihnen und Arno frohe Weihnachten.« Anton war kurz verlegen, bedankte sich und wandte sich dann schnell zum Gehen.

Als er nach draußen trat, atmete er erleichtert auf. Die frische Abendluft tat gut. Vor Jahren hatte er einmal den Fehler begangen, die Weihnachtsnacht im dicht belegten Schlafsaal zu verbringen. Damals hatte er sich geschworen, dass es das letzte Mal wäre – zu viele Männer, viel zu viele Dämonen. Der alte Sendlinger hatte die halbe Nacht gestöhnt und immer und immer wieder den Autounfall durchlebt, bei dem seine Frau gestorben war. Nein, Anton war besser dran, wenn er mit Arno den windgeschützten Durchgang aufsuchte, der ihnen schon die Nächte zuvor als Schlafplatz gedient hatte. Der Durchgang lag in einer wenig frequentierten Seitengasse der Fußgängerzone, da wären sie ungestört. Anton lenkte seine Schritte entschlossen dorthin, Arno mit vertrauensvollem Blick eng an seiner Seite.

Beim Durchgang angekommen richtete er sich wohnlich ein. Sein Schlafsack bot ihm Schutz vor der einsetzenden Kälte des Abends, Arno dicht neben ihm wärmte ihn zusätzlich. Anton saß mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt und fühlte so etwas wie innere Ruhe. Nicht unbedingt weihnachtlich, aber unaufgeregt und angenehm. Er hatte gerade einen Schluck aus seiner Flasche genommen, als er einen Mann bemerkte, der sich im Halbdunkel in seine Richtung bewegte. Anton zog sich unwillkürlich weiter in den Durchgang zurück und beobachtete den Fremden. Dieser wirkte bei näherem Hinsehen harmlos, er trug eine nicht mehr ganz neue Winterjacke, eine Umhängetasche über der Schulter und in der Hand einen kleinen Tannenbaum in einem Blumentopf. Er schaute sich suchend um und entdeckte schließlich Anton, der sich unvorsichtig weit aus seinem Winkel nach vorne gelehnt hatte. In dem Moment, in dem Anton zurückfuhr, setzte sich der Fremde entschlossen in Bewegung und kam direkt auf ihn zu. Anton schaute zu Boden und versuchte, möglichst abwesend zu wirken, bis ein Paar etwas abgetragener Schuhe in seinem Sichtfeld auf dem Asphalt erschien. »Guten Abend«, sprach der Fremde Anton an, »darf ich mich ein bissl zu dir setzen?« Anton seufzte innerlich und schaute auf. Vor ihm stand ein etwas verloren wirkender Mann um die Sechzig, mit freundlichen müden Augen und beachtlichen Augenringen. Anton hatte ihn im Nu taxiert und befand für sich, dass von dem Fremden wohl keine Gefahr ausging. Dass auch Arno völlig ruhig blieb, war ein weiteres gutes Zeichen. Also gab er sich einen Ruck und deutete auf den Platz neben sich: »Bitte, wenn Sie meinen. Es ist ein freies Land – angeblich.« Er sah keinen Grund, das ungebetene Du-Wort gleich zu erwidern. Der andere setzte sich etwas ungelenk neben Arno in den Hauseingang und stellte sein Bäumchen vor sich auf den Gehsteig. Erst jetzt erkannte Anton, dass es auch mit einigen Kerzen geschmückt war. »Niemand sollte zu Weihnachten allein sein«, verkündete der Fremde. Anton seufzte leise, als ihm klar wurde, dass er offenbar als Objekt einer guten Tat zu Weihnachten auserkoren worden war. Was war es nur, das Menschen dazu brachte, ausgerechnet am Weihnachtsabend etwas anders zu machen als die übrigen dreihundertvierundsechzig Tage im Jahr? Er selbst war damit zufrieden, den Tag ganz bewusst so zu verbringen wie die davor und danach auch. Er würde sich nie wieder auch nur einen Gedanken an beschauliche Weihnachtsfeiern im Familienkreis erlauben, und wer ihm etwas Gutes tun wollte, stieß ihn nicht mit der Nase auf das Fest, sondern ließ ihn schlicht in Ruhe.

»Ich hab mich noch gar nicht vorgestellt«, unterbrach der Fremde Antons Gedanken, »ich bin der Michael, Michael Leermoser.« »Anton«, brummte der Angesprochene und setzte nach kurzer Pause hinzu: »und das ist Arno.« Der Fremde, Michael also, nickte und kramte dann in seiner Umhängetasche, aus der er nach und nach ein Feuerzeug, eine Flasche Wein, zwei Gläser, eine Packung Lebkuchen und schließlich eine Schachtel Chesterfield Blue zutage förderte. Anton sah diesen Vorbereitungen einer improvisierten Weihnachtsfeier schweigend zu, Arnos Kopf auf seinem Knie. »Machst du den Wein auf?«, Michael reichte ihm die Flasche, während er selbst sich bemühte, mit seinem Feuerzeug die Kerzen auf dem Bäumchen zu entzünden. Sobald er erfolgreich war, kam der nächste Windstoß und löschte die Flamme wieder. Anton musste schmunzeln, griff nach der Flasche und öffnete den Schraubverschluss. Dann goss er andächtig den rubinroten Wein in die beiden mitgebrachten Gläser mit Kristallschliff. So hatte er schon lange nicht mehr Wein getrunken. Er hielt sein Glas gegen das Licht der Straßenlaterne und erfreute sich an dem glänzenden schimmernden Rot.

Michael hatte es inzwischen aufgegeben, die Kerzen zum Strahlen bringen zu wollen. Er griff nach seinem Weinglas, stieß mit Anton an und sagte laut: »Prost! Auf ein anderes Weihnachten!« Anton nickte unverbindlich dazu. Während Michael die Lebkuchenpackung öffnete und danach die Schachtel Chesterfield anbot, sprach er unentwegt. Anton konnte nicht ganz erkennen, ob der andere das Wort an ihn richtete oder ob er Zeuge eines lebhaften Selbstgesprächs wurde. Er sah Arno fragend an, der mit seelenvollem Blick eine Pfote auf Michaels Bein gelegt hatte. Dann konzentrierte er sich auf Michaels Redefluss. Der sprach von Weihnachten in seiner Kindheit, wie sie nur wenig zu essen und kaum Geschenke gehabt hatten und wie groß seine Enttäuschung war, als es für ihn als Buben zur traurigen Gewissheit wurde, dass das Christkind nicht existierte. »Kannst du dir das vorstellen? Da lag für mich genau ein Packerl, mit warmen Ringelsocken. Und ich hatte doch meine Großmutter beim Stricken beobachtet. Ich war so enttäuscht, als mir meine älteren Geschwister einreden wollten, die wären vom Christkind. Sie haben´s sicher lieb gemeint, aber trotzdem«, er hielt kurz inne. Anton überlegte, was er darauf sagen sollte, und begnügte sich schließlich damit, sinnend den Kopf hin und her zu wiegen. Michael schien aber ohnehin auf keine Reaktion gewartet zu haben, denn er sprach weiter, nachdem er einen Schluck Wein genommen hatte. Es ging um die ersten Weihnachtsfeste mit seiner jungen Familie, das Glück, das er empfunden hatte, als sie erstmals zu dritt vor dem Weihnachtsbaum saßen. »Ich sehe heute noch ihre Augen vor mir, kugelrund vor Staunen, das raschelnde Weihnachtspapier hat sie damals genauso fasziniert wie das, was darin verpackt war. So ist sie eigentlich heute noch, dabei ist sie jetzt schon fünfundzwanzig, sie kann sich immer noch an den kleinen Dingen freuen.« Anton nickte nur, genoss die wohlige Wärme, die sich durch den Wein langsam in seinem Körper ausbreitete und rauchte genüsslich eine angebotene Zigarette. Nach einigem Zögern steckte er fünf weitere in seine Jackentasche. Michael war inzwischen offenbar bei kürzer zurückliegenden Weihnachtsfesten angelangt. Der Ton seiner Stimme hatte sich verändert, jetzt schwang Traurigkeit mit. Anton hörte zu und achtete darauf, an den passenden Stellen ein »ah«, »mhm« oder »verstehe« einzuwerfen. Er hatte erkannt, dass der andere einfach einen Zuhörer brauchte, keinen Gesprächspartner. Und zuhören konnte er gut, er selbst kam ohnehin mit wenigen Worten aus. So saß er also und lauschte dem Ende einer Ehe, der Entfremdung von der geliebten Tochter und dem langen Weg zurück aus der Depression. Zwischendurch genoss er einen Schokoladelebkuchen, goss sich Rotwein nach und rauchte versonnen.

Es waren sicher zwei Stunden seit Michaels Auftauchen vergangen, als dieser schließlich erschöpft innehielt. Er schwieg eine Weile, sah dann Anton leicht verlegen an. Vielleicht begann er in diesem Moment die Vertraulichkeit zu bereuen. Anton kannte das und sah einfach unbeteiligt vor sich hin. Michael hatte es plötzlich eilig, die Weihnachtsbegegnung zu ihrem Ende zu bringen. Er verehrte Anton feierlich das Weihnachtsbäumchen, räumte Weingläser und Feuerzeug zurück in seine Tasche, stand rasch und leicht hinkend auf und begann sich von Anton mit guten Wünschen zu verabschieden. Anton erwiderte diese mit Gleichmut, als ihm Michael unvermittelt einen Geldschein in die Hand drückte, bevor er sich zum Gehen wandte. Fünfzig Euro, Anton traute seinen Augen nicht. Sein erster Impuls war es, das Geld nicht anzunehmen, wofür denn auch? Doch dann besann er sich und steckte den Schein in seine Jackentasche – schließlich hätte das jeder andere Therapeut auch so gemacht.

Elisabeth Hassek-Eder ist Absolventin der Ghostwriting Academy und angehende Ghostwriterin.
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