Rollentausch
Sonja Warter
Sonja Warter
Der Weihnachtsmann bekleidet mit roter Stoffhose und weißem Polo – schließlich ist Ostern und nicht Weihnachten – schiebt sich laut schmatzend und mit offensichtlicher Begeisterung bereits das fünfte Brot mit Osterschinken in die Figur. Die zwei Schokohasen, die es als Nachspeise geben soll, liegen schon bereit. Das weiße Polo spannt verdächtig, und kurz über dem Hosenbund eröffnet es Einblicke, die besser verborgen geblieben wären.
„Oida, echt jetzt?“, fragt das Christkind, das eingehüllt in ein silbernes Feenkleidchen mit einem Teller Salat daneben sitzt, mit hörbarer Entrüstung in der Stimme. „Willst du nicht mal aufhören zu futtern? Das kannst du den armen Rentieren zu Weihnachten nicht antun.“
„Du mit deinem Diätwahn schon wieder, du musst das Leben auch mal genießen.“
„Sehr witzig, im Unterschied zu dir muss ich zu Weihnachten selbst fliegen und jedes Kilo auf den Rippen macht das noch anstrengender. Außerdem will ich mir meine jugendliche Figur erhalten. Sonst werde ich irgendwann ‚Christoma‘ und nicht ‚Christkind‘ genannt.“
„Manchmal bist du echt eine Tussi“, schimpft der Weihnachtsmann und steckt sich genüsslich den Kopf vom ersten Schokohasen in den Mund. „Schau mal den Kollegen Väterchen Frost an. Der ist auch nicht gerade der Schlankste und eine Wodka-Nase hat er obendrein. Und da regt sich keiner auf.“
„Also ich vergleiche meinen Job lieber mit dem der Weihnachtsgesellen in Island. Die hackeln ja fast nichts. 13 Weihnachtsgesellen für die paar Leute da oben? Den Job hätte ich auch gerne!“
„Schau lieber nach Italien, da kommt zu Weihnachten die Hexe Befana, die ist nicht so eitel wie du. Sie hat ihre Klamotten offensichtlich aus der Altkleidersammlung und pfeift drauf, wie sie aussieht, sonst hätte sie sich ihre Nase schon lang chirurgisch richten lassen! Aber sie versteht was von Genuss. Schließlich hat sie ihren Landsleuten eingetrichtert, dass sie überall ein Glas Wein bereitstellen, wenn sie kommt. Schlaue Frau!“
„Vielleicht hast du recht“, seufzt das Christkind und schielt bekümmert auf das letzte Salatblatt. „so lebt es sich sicher viel angenehmer. Vielleicht sollte ich schon mal üben und irgendwann ihre Rolle übernehmen?“
„Du“, sagt der Weihnachtsmann plötzlich ganz aufgeregt und zur Abwechslung mit leerem Mund. „Da kommt mir eine Idee! Wieso tauschen wir nicht überhaupt alle mal die Rollen? Jedes Jahr das Gleiche und das jetzt schon seit hunderten von Jahren ist eh fad.“
Zwei Wochen später versammelt sich ein illustres Grüppchen in einem Zoom-Meeting: der Weihnachtsmann, das Christkind, die isländischen Weihnachtsgesellen – zwar nur 12 statt 13, weil einer noch seinen Rausch von der vergangenen Nacht ausschläft –, die Hexe Befana und Väterchen Frost. Die Idee des Weihnachtsmannes, dieses Jahr die Rollen zu tauschen, kommt an. Schon nach kurzer Diskussion einigt man sich: Die Weihnachtsgesellen – schließlich sind es mehr als ein Dutzend – sollen sich des großen Arbeitsgebietes von Väterchen Frost im Osten annehmen, während dieser zur Abwechslung mal eine ruhige Kugel schieben kann und nur das kleine Island mit seinen Geschenken beglücken muss. Das Christkind wird sich in Italien schon einmal auf seine Altersrolle vorbereiten und der Weihnachtsmann kann sich erstmals beim Bergsteigen in den Alpen versuchen. Die Hexe Befana dagegen soll mit ihrem Besen nördlichere Gegenden bereisen und vorher im Haus des Weihnachtsmannes in Rovaniemi ein kurzes Training absolvieren.
Am nächsten Tag wird das Ergebnis dieses Meetings auf einer eilig einberufenen Pressekonferenz verkündet, die live auf Netflix übertragen wird. Danach bricht eine mediale Hölle los. Schlagzeilen wie „Ist Weihnachten ruiniert?“, „Hat sich Weihnachten verselbständigt?“ oder „Bleibt uns nicht einmal mehr Weihnachten?“ beherrschen Zeitungen und Fernsehen. Und im Internet tummeln sich praktisch in der Sekunde alle möglichen Memes mit Crossovers aus dem Christkind und der Hexe Befana oder von Väterchen Frost und den Weihnachtsgesellen, die auf der Spitze des isländischen Geysirs tanzen.
Doch im Herbst ändert sich die Berichterstattung. Dank geschickter PR-Arbeit der Weihnachtsfiguren gibt es nun zahllose Doku-Soaps, die die einzelnen Protagonisten bei der Vorbereitung auf ihre neuen Rollen zeigen. Weihnachten ist so präsent wie nie. Das Christkind färbt seine Flügel in den italienischen Nationalfarben ein und probiert sich durch köstliche italienische Weine, wie man in einer exklusiv ausgestrahlten Doku des italienischen Fernsehens mitverfolgen kann. In Island macht man sich hingegen Sorgen. In einem den ganzen Tag laufenden Livestream im Internet sieht man nämlich, dass Väterchen Frost genau gar nichts macht. Das heißt, er schnarcht lautstark und in den kurzen Wachphasen erklärt er mit seiner tiefen Brummstimme im Brustton der Überzeugung ein ums andere Mal, dass die Weihnachtsbetreuung des kleinen Islands ja keine Herausforderung für ihn sei. Schließlich müsse er sonst wesentlich größere Gebiete mit Geschenken versorgen. Die Weihnachtsgesellen dagegen sieht man auf allen Social-Media-Kanälen nur mit sorgenvollen Mienen über eine riesige Landkarte gebeugt und über die Gebietsaufteilung diskutieren. Sportlich geht es hingegen der Weihnachtsmann an. Im rot-weißen Trainingsanzug wird er immer wieder beim Bergsteigen mit langsam immer schwerer werdenden Rucksäcken gesehen. Gerüchteweise soll er schon einige Kilos verloren haben. Die Hexe Befana dagegen wird beim Shoppen in den teuersten Boutiquen abgelichtet. Sie ist verzweifelt auf der Suche nach einem dem Anlass entsprechenden weißen Kleid. Auch bei einem renommierten Schönheitschirurgen soll sie gewesen sein.
Je näher der große Tag rückt, umso mehr steigen die Spannung und die Vorfreude in der Bevölkerung.
Dann wird es endlich Weihnachten. Das Fest wurde heuer ausnahmsweise einheitlich auf den 24. Dezember gelegt, damit sich kein Land benachteiligt fühlt und alle Geschenke gleichzeitig verteilt werden können. Die Radio- und Fernsehstationen schalten von einer Weihnachtsfigur zur anderen und übertragen auch non-stop live im Internet. Sie analysieren die Outfits, das Styling und das Verhalten alle Protagonistinnen und Protagonisten. Bald schon trendet die blau-weiß-rote und mit Strasssteinen verzierte Badehose von Väterchen Frost, mit der er in den heißen Quellen der blauen Lagune in Island steht, wo er wasserdichte Geschenkboxen verteilt. Im Alpenraum wird vor allem der muskulöse Body des Weihnachtsmannes diskutiert, der sich unter dem eng anliegenden roten Kostüm deutlich abzeichnet. Die lässige Eleganz, mit der er die verschneiten Wege in abgelegene Dörfer hinaufsteigt, ringt auch den hartgesottenen einheimischen Männern Respekt ab. Zahllose Groupies pilgern sogar zum Großglockner, wo er am Abend offiziell seine Geschenke verteilt. Im Norden erregt die Hexe Befana auf ihre Art Aufsehen. Ganz in elegantes Weiß gehüllt erleuchtet sie auf ihrer Tour im hohen Norden mit ihrem hell erleuchteten, perlenbesetzten E-Besen den schwarzen Nachthimmel, wo immer sie sich gerade befindet. Ihre Geschenke lässt sie an kleinen zartrosa Fallschirmen elegant zu Boden schweben. Kaum gesehen werden hingehen die Weihnachtsgesellen, die sich diesmal aufgeteilt haben, um ihren riesigen Arbeitsplatz abzudecken. In den Wohnungen und Häusern im Osten hört man daher nur ein kurzes Rascheln und eilige, aber leise Schritte, die sich zum Weihnachtsbaum bewegen. Nach einem eisigen Lufthauch, der entsteht, wenn sie das Zimmer wieder verlassen, ist alles vorbei. Zurück bleiben liebevoll in umweltfreundlich hergestelltes Zeitungspapier eingewickelte Geschenke. Das Christkind mit seinen italienisch anmutenden Flügeln folgt diesmal seinen eigenen Regeln und beglückt zur Irritation aller zuerst die Pizzerien, bevor es dem Rest des Landes seine schmuddelig eingepackten Geschenke bringt.
Schließlich ist es so weit: Nach einem medial eingeleiteten Countdown öffnen Millionen Menschen dieses Jahr zeitgleich ihre liebevoll verpackten Geschenke. Sämtliche Livestreams sowie die Fernsehanstalten übertragen in diesem Moment erstaunte, etwas ratlose Gesichter. Schnell stellt sich heraus, dass sich in allen Packerln das Gleiche befindet, unabhängig davon, wer sie gebracht hat. Es ist … ein Spiegel! Daneben liegt ein Zettel. Auf ihm steht in der jeweiligen Sprache: „Schau in den Spiegel. Dort siehst du das schönste Weihnachtsgeschenk, das es geben kann. Dich! Du bist ein Geschenk, nämlich ganz genau so, wie du jetzt bist. Und das nicht nur zu Weihnachten, sondern das ganze Jahr. Merk dir das, wenn du einmal daran zweifeln solltest. Der Spiegel wird dich immer daran erinnern.“ Langsam verändert sich der Gesichtsausdruck der Beschenkten. Nach der ersten Ratlosigkeit spiegelt sich nun zuerst Verblüffung, dann Nachdenklichkeit und zum Schluss großer Stolz in den Gesichtern. Die Weihnachtsfiguren, die dies nun nach getaner Arbeit ebenfalls über die Fernsehkameras verfolgen, klopfen sich heimlich auf die Schultern. Die Überraschung ist gelungen und die Botschaft angekommen. Weihnachten ist diesmal wirklich anders!
Nachtrag
Anfang Jänner treffen sich der Weihnachtsmann und das Christkind zur Nachbesprechung. Der Weihnachtsmann kann gar nicht still sitzen, nach seinem Einsatz in den Alpen ist er jetzt fit wie ein Turnschuh und ständig in Bewegung. Endlich fühlt er sich richtig wohl. „Willst du nächstes Jahr wieder zurücktauschen?“, fragt er das Christkind mit besorgter Miene. „Niemals!“, bringt das Christkind schließlich mit vollem Mund hervor, nachdem es einen Bissen seiner riesigen Pizza Quattro Formaggi hintergeschluckt hat. Es betrachtet sich versonnen im Spiegel. Die neuen Kurven stehen ihm gut. Und wem sein neues Äußeres nicht gefällt, der hat eben Pech gehabt!
Sonja Warter ist Autorin, PR-Beraterin und Ghostwriter.