Das Duftwunder

von Ella Scheer

Jedes Jahr zerbreche ich mir den Kopf, was ich meinen lieben Freunden und Verwandten Originelles, das zu ihrem Charakter und ihren Vorlieben passt, schenken könnte. Ich dagegen bekomme immer nur Büchergutscheine, mit der Verständnis heischenden Anmerkung: „Was soll man dir sonst schenken?“ Es ist wahr, ich bin der Lese-Sucht verfallen, aber auch dem attraktiven Buchhändler, auf den ich seit geraumer Zeit ein Auge geworfen habe. Leider scheint er gegen meinen Humor immun zu sein. An seiner höflichen Distanziertheit hinterlassen meine originellen Flirtversuche nicht einmal einen Kratzer. Wahrscheinlich müsste ich die ganze Buchhandlung aufkaufen, damit er mich wahrnimmt.

Frustriert von seiner Ignoranz, beschließe ich spontan, mir ausnahmsweise selbst eine besondere Freude zu machen, wenn es schon sonst keiner tut. An einem schrulligen kleinen Stand am Weihnachtsmarkt erstehe ich bei einer wunderlichen alten Frau ein Parfum „für besondere Anlässe“, wie sie geheimnisvoll anmerkt. Sie versteigt sich sogar in die Behauptung, es könne einen völlig neuen Menschen aus mir machen. Das halte ich für lächerlich, doch ich mag den Duft.

Erstaunlicherweise bemerke ich noch am selben Abend interessante Veränderungen. Obwohl ich nicht nur wegen eines Bechers Schlagobers im Supermarkt bin, sondern einen vollen Einkaufswagen vor mir herschiebe, lassen mich die Leute in der Kassenschlange vor, ohne dass ich Dringlichkeit vortäuschen muss. In dem wegen Schlechtwetters völlig überfüllten Bus macht der Nächstbeste einen Platz für mich frei. Die chronisch nervtötende Nachbarin, der ich normalerweise hilflos ausgeliefert bin, verstummt heute bei meinem Anblick und weicht zwei Schritte zurück, als hätte ich einen Fluch ausgestoßen.

Angespornt von diesen Erfolgen, werde ich tags darauf bei meinem Chef vorstellig. Er hat es eilig, mich loszuwerden, doch das Duftwasser entfaltet seine Wirkung. Kaum spreche ich meinen Wunsch nach einer Gehaltserhöhung aus, wird er etwas blass. Dennoch stimmt er erstaunlich rasch zu. Ich wage mich noch einen Schritt weiter und erwähne, mir würden nach so langer Zeit in der Firma ein paar zusätzliche Urlaubstage zustehen. Jetzt färbt sich sein Antlitz rot, gleichzeitig fängt er hektisch zu nicken an und fuchtelt wild in Richtung Tür. Glückstrahlend eile ich davon – direkt in die Buchhandlung.

Während ich die Freitreppe in den zweiten Stock hochlaufe, krame ich das Parfum aus der Tasche, um mich für meine nächste Aktion frisch zu präparieren. Als ich auf der letzten Stufe um die Ecke biege, werde ich von einem rückwärts gehenden Mann angerempelt. In einer Schrecksekunde entgleitet mir mein Wundermittel und stürzt in die Tiefe. Gebannt starre ich hinunter ins Gedränge. Das kugelrunde Fläschchen aus dickem Glas könnte aus dieser Fallhöhe mindestens ein Schädel-Hirn-Trauma verursachen, vielleicht auch zwei. Zum Glück kracht es ohne Kontaktanbahnung auf den edlen Steinboden. Ein Aufschrei geht durch die Menge und eine intensive Duftwolke breitet sich in alle Richtungen aus. Der Adrenalinstoß verleiht mir Kraft für einen Wutanfall: „Verdammt, das war mein bestes Parfum!“ – „Tut mir schrecklich leid“, höre ich eine allzu bekannte Stimme, wende mich um und stehe meinem Lieblingsbuchhändler gegenüber. „Ich werde Ihnen den Schaden selbstverständlich ersetzen. Wollen wir die Angelegenheit bei Kaffee und Kuchen besprechen?“ Ich staune nicht schlecht, dass dieses Wundermittel seine Wirkung auch über so große Distanz nicht verfehlt. Eine gute Stunde später werde ich von Christian zum Abendessen eingeladen.

Jetzt heißt es handeln – ich eile zurück zum Weihnachtsmarkt, um mir Nachschub zu besorgen. Anstatt von meinem Bericht beeindruckt zu sein, lacht mich die alte Frau schallend aus. In dem Parfum sei nichts Besonderes gewesen, die Wirkung hinge allein von dem Glauben an meine innere Stärke ab. Aber konnte ich meinen Superkräften trauen?

Eine schlaflose Nacht und einen rastlosen Tag später nehme ich all meinen Mut zusammen und bewältige meine Verabredung ohne „magisches“ Parfum. Es ist fantastisch! Ohne zusätzliche Duftstoffe können wir uns gleich noch besser riechen.

Als ich am Montag danach wieder ins Büro komme, ist der Chef weg. Unsere Sekretärin musste ihn kurz nach meinem Besuch von der Rettung abholen lassen. Diagnose: akuter allergischer Schock. Irgendetwas muss doch in diesem Duftwasser gewesen sein, das die Konsumentenschutz-Prüfung nicht bestanden hätte. Für mich aber war es das beste Weihnachtsgeschenk des Jahres.

Ella Scheer ist Autorin und angehende Ghostwriterin.
Ab März kannst du mehr über sie in ihrem Ghostwriterportrait lesen.