Der Weihnachtsstern und die Rote Hexe

von Jolande Peck

„Es is a vü zu woames Wetter für die koide Johreszeit. Ausserdem rengt‘s ununterbrochen, dass an scho überhaupt nix g’freit“, singen Rainhard Fendrich (Rainki wie ich ihn nennen darf) und ich gemeinsam auf der Tagtraumbühne. Er begrüßt mich überschwänglich, und sagt: „Endlich hast du Zeit, mit mir ein Weihnachtskonzert zu geben! Das war schon immer mein größter Wunsch!“

In Wahrheit stehe ich an meinem Schlafzimmerfenster, unmusikalisch wie immer, und überlege, was ich heute für die depperte Weihnachtsfeier anziehen soll. Dabei betrachte ich das Haus vis-a-vis. Die Gegenüber-Nachbarin im 2. Stock wurde von meiner Neben-mir-Wohnungs-Nachbarin, Frau Kovacic, nur die „Rote Hexe“ genannt. Sie hat nämlich rote Haare, also die Gegenüber-Nachbarin. Wir kennen sie nur vom Hinübersehen. Niemals haben wir sie beim Billa oder auf der Straße getroffen oder sonst irgendwo. Als Hobbypsychologin diagnostiziere ich bei der Roten Hexe nicht nur eine Sozialphobie, sondern auch ein Messie-Syndrom. „Sie hat gewaltig einen an der Waffel!“, denke ich mir nicht zum ersten Mal in den 22 Jahren, in denen ich sie als Gegenüber habe. Leider löst meine psychologische Begabung meine Bekleidungsprobleme nicht.

Also singen Rainhard und ich weiter „Es is a Glick, dazöht die Müchfrau, ana Hausbesorgerin, dass i scho heit in ana Woch’n auf die Malediven bin. Weu der Gedankn kummt ihr nimmamehr im Tram, Weihnochten daham.“

Ich blicke weiter auf den Balkon der Gegenüber-Nachbarin, der ein Topfpflanzenfriedhof ist. Nur einige sehr resiliente Pflanzen überleben in ihren Blumenkisterln. Schwer zu sagen, um welche Pflanzen es sich dabei handelt. Sie sind von niedriger Gestalt und grün. Als Hobbygärtnerin vermute ich, dass es sich um Moose handelt. Spezielle Stadtmoose.

Die Zombiepflanzen der Gegenüber-Nachbarin hängen an jeder Wand der Loggia, auch an den äußeren Fenster- und Balkontürrahmen. Sie stehen am Boden, am Tisch, überall, wo es möglich ist. Bei manchen handelt es sich um Nadelgehölze, bei anderen um typische Balkonblumen und ich glaube, auch eine Orchidee zu erkennen. Es ist aber ganz wurscht – auf gut wienerisch –, denn sie sind ALLE, wirklich alle, bis auf die Spezialmoose natürlich, tot.

Manchmal gibt es Neuzugänge am Friedhof der Topfpflanzen. Sie kommen blühend oder grün und werden auch regelmäßig gegossen, aber nach kurzer Zeit treten sie den Weg ihrer Vorgängerinnen an und werden zu Dörrpflanzen. Die letzten, die dieses Schicksal ereilte, waren bunte Calluna vulgaris, kaum umzubringendes Heidekraut. Aber, und das ist das Erstaunliche für mich, alle bleiben dort stehen, wo sie einmal hingestellt wurden. Es gibt keine Veränderungen, keine Verschiebungen für die Vertrockneten, für die in Auflösung Befindlichen. Wenn etwas vom Sperrmüllzeugs der Roten Hexe, welches sie ebenfalls am Balkon hortet, wie zum Beispiel das „Achtung Videoaufnahme“-Schild, verrutscht oder umfällt, dann bleibt es verrutscht oder umgefallen.

So jetzt kommt mein Solo: „Es is a Tog wia aus da Dos’n, für die man nicht den Öffner find. A Taxler losst mi über d’Stross’n, er wass genau, es is Advent.“

Passt mir die schwarze festliche Hose noch, oder muss ich wieder das rot glitzernde Stretchkleid anziehen? Ich hasse diese Weihnachtsfeiern, pfah, vor allem die im Freien mit Rentierlulu en Masse, weil man sonst erfriert.

Ich schaue weiter hinüber und erinnere mich an den einzigen Satz, den die Gegenüber-Nachbarin je an mich gerichtet hat: „Des Fensta putz’n zohlt se net aus“, schrie sie über die Straße herüber. „Ja, ja“, plärrte ich nickend zurück und putzte lustlos weiter. Einmal parkte ich unterhalb ihres Balkons, und als ich nach ein paar Tagen wieder wegfahren wollte, waren Windschutzscheibe und Motorhaube mit nassen, stinkenden, teerigen Tschickstummeln übersät. „Des derfs jo net geben!!! Das darf jetzt bitte aber nicht wahr sein!!!!“ schimpfte ich zurückhaltend für meine Verhältnisse, während ich die grauslichen Dinger entfernte. „Des wor de rote Hex“, schrie Frau Kovacic vom vierten Stock herunter, die mich dabei beobachtete. „Des mocht de imma! I hobs gsegn!“

Frau Kovacic ist Ende November gestorben – mit 96 Jahren. Die Rote Hexe ist noch da. Aber auch sie ist alt und sehr dünn geworden. Das Rauchen hat sie mittlerweile aufgegeben und ihre Haare sind grau. Sie war auch längere Zeit weg. Als Hobbydetektivin merke ich so etwas sofort! Eigentlich gibt es nur drei Möglichkeiten: tot, im Pflegeheim oder im Spital. In einem bin ich mir sicher, auf den Malediven war sie nicht! Woran ich ihre Abwesenheit festmache? Wenn sie zu Hause ist, öffnet sie die Balkontür morgens zum Lüften. Ist sie nicht da, bleibt die Balkontür zu. Sie selbst sieht man kaum mehr auf ihrer Loggia, manchmal im Winter sitzt sie auf einem kaputten Campingsessel und trinkt etwas. In meiner Fantasie ist es selbstverständlich Kaffee. Es könnte aber auch Tee mit Rum oder Absinth sein. Sie trägt dabei eine zu große altmodische Lederjacke, die sie sicher nicht wärmt, und eine absurd aussehende Haube, wie man sie in den 80iger Jahren des vorigen Jahrhunderts von seiner Tante geschenkt bekam. Im Sommer sitzt sie nie am Balkon.

„Die blade Gredl ausn Fischgschäft , locht mi siass und bluadich an. Und den Moment fohrts durch mei Hirn, dass si do nix mehr ändern kann. Wir kaufen ois, wir schenken gern, dann schau ma fern und nur die Kinder warten heit no auf an Stern.“, das ist der Part von Rainki, den mag ich nämlich nicht, weil ich keine Fische mag. Also essen. Sie dürften, wenn es nach mir ginge, so lange durch das Wasser schwimmen, wie sie wollten.

So, mir ist das jetzt egal, ich ziehe irgendeine Weihnachtsverkleidung an und marschiere ins Blumengeschäft. Dort kaufe ich drei Weihnachtssterne, die größten, die die Blumenverkäuferin meiner Wahl anzubieten hat. Einen werde ich am Nachmittag zur Weihnachtsfeier mitbringen, einer steht katzengesichert bei mir im Wohnzimmer und den dritten benötige ich für meine Spezialoperation.

Ich nehme meinen Mantel, gehe wieder hinaus, überquere die Straße und läute bei irgendwem im Gegenüber-Haus an. Auf die Frage „Werwüwos?“, sage ich „Poooostt!!!“ Glücklicherweise bin ich auch eine begnadete Hobbystimmenimitatorin, und da ich viel online bestelle, kann ich das Wort „Post“ mit den verschiedensten Akzenten aussprechen. Ich gehe in den zweiten Stock, und mir ist sofort klar, wo die Rote Hexe wohnen muss. Die Tür sieht genauso vergammelt aus wie ihre Fensterrahmen und wird von toten Topfpflanzen eingerahmt. Schnell stelle ich mein Geschenk vor ihrer Tür ab und husche aus dem fremden Haus.

Als ich am nächsten Morgen aufstehe und den Vorhang aufziehe, muss ich grinsen, denn ein großer grellrot leuchtender Weihnachtsstern erhebt sich festlich aus dem Friedhof der Topfpflanzen der Roten Hexe. Und nachdem „Es a vü zu woames Wetter für die koide Johreszeit is.“, kann der Weihnachtsstern ruhig draußen stehen bleiben und auf ein Weihnachtswunder hoffen.

Jolande Peck ist Autorin und angehende Ghostwriterin.
Ab Mitte März erfährst du mehr über sie in ihrem Ghostwriterportrait.