Najim und der Weihnachtsengel

von Christine Auer

Hört ihr das Knistern und Rascheln? Das ist mein Lieblingsgeräusch. Gleich wird mich Oma Gertrud mit einem Lächeln aus dem Seidenpapier wickeln. Das ist einer der schönsten Momente des Jahres für mich. Ich kenne Oma Gertrud schon, seit sie ein kleines Mädchen gewesen ist. Damals staunte sie immer mit großen Augen, wenn ihre Mutter mich vorsichtig aus der Schachtel holte.

Oh, Entschuldigung, ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen. Mein Name ist Raphael und ich bin der größte Porzellanengel in Oma Gertruds Weihnachtskiste.

Ach, es ist herrlich, endlich wieder an meinem Platz auf dem Kamin zu stehen. Der pausbäckige Holzengel Gabriel winkt mir vom Bücherregal zu. Zufrieden schaue ich mich um. Holzengel, Weihnachtswichtel aus Ton, Schneemänner aus Filz, Strohsterne. Oma Gertruds Weihnachtsdekoration ist vollzählig. Nur die bunten Adventkalender für ihre Enkel Lina und Felix sind noch nicht aufgestellt. Moment, was ist das? Auf dem Fensterbrett steht ein Rentier mit rotblinkender Nase und starrt mich neugierig an. „Wer bist denn du?“, rufe ich überrascht. Das Rentier heißt Rudolph und spricht, als würde es auf einem Kaugummi kauen. Es erzählt, dass es aus Amerika kommt. Oma Gertruds Sohn lebt jetzt mit seiner Familie dort. Sie werden erst kurz vor dem Heiligen Abend wieder nach Hause kommen, um Weihnachten mit Oma Gertrud zu verbringen.

In den nächsten Tagen bemerke ich, wie sehr mir Lina und Felix fehlen. Auch Oma Gertrud vermisst ihre Familie. Oft sitzt sie im Schaukelstuhl und starrt durch das Fenster auf den Schnee, als würde sie auf jemanden warten. Manchmal bekommt sie Besuch von einer Freundin oder der Nachbarin mit ihrem Sohn. Dann stellt Oma Gertrud einen Teller mit frischgebackenen Keksen auf den Tisch und zündet die Kerzen am Adventkranz an.

Eines Tages hebt Oma Gertrud mich hoch und wickelt mich in Seidenpapier. Moment, was soll denn das? Ich habe doch das Christkind noch gar nicht gesehen! Als könnte sie meine Gedanken hören, sagt Oma Gertrud: „Wir beide gehen heute in die Volksschule. Der Sohn meiner Nachbarin hat mich zur Weihnachtfeier eingeladen und mich gebeten, dich als Dekoration mitzunehmen.“ Oh nein! Was mir dort alles passieren könnte! In Gedanken höre ich schon meine Porzellanflügel klirren und absplittern. Doch zu meiner Überraschung gefällt es mir in der Schule. Ich stehe mitten auf dem Schreibtisch der Lehrerin und alle bewundern mich. Es duftet nach Tannenzweigen und Bienenwachs. Aufgeregt zeigen die Kinder ihren Familien Basteleien und Zeichnungen. Nur ein Bub sitzt allein am Fenster und beobachtet die Schneeflocken. Selbst, als die Lehrerin die Keksdose öffnet, steht er nicht auf, um sich ein Vanillekipferl zu holen. Ich verstehe das nicht. Wo ist seine Familie? Die Lehrerin legt dem Buben einen Arm um die Schulter. „Najim, möchtest du nicht zu uns kommen?“ Aber er schüttelt den Kopf.

Plötzlich beginnt meine Porzellanhaut zu kribbeln. Das ist meine Chance, um zu beweisen, dass ich ein richtiger Weihnachtsengel bin. Ich werde Najim helfen. Aber wie?

„Gehen wir nach Hause“, sagt Oma Gertrud in diesem Moment und hebt mich hoch. Als wir an Najim vorbeigehen, kommt mir eine Idee. Oma Gertrud ist traurig und alleine, Najim ist traurig und alleine. Ohne nachzudenken, nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und … springe. Oh nein, was habe ich getan? Ich erwarte Klirren und Krachen. Aber zu meiner Überraschung lande ich weich auf einer Kinderhand. „Hoppla.“ Najim schaut mich mit seinen dunkelbraunen Augen an. Er hat mich aufgefangen! „Danke, dass du meinen Engel gefangen hast! Ich wäre sehr traurig, wenn er kaputt wäre“, sagt Oma Gertrud, „Er hat früher meiner Mutter gehört. Jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, erinnere ich mich an sie. Bist du heute mit deiner Familie hier?“ Najim schüttelt den Kopf und legt mich vorsichtig in Oma Getruds Hand. „Sie sind weit weg“, sagt er und dreht sich wieder zum Fenster. Oje, Najim ist immer noch traurig. Angestrengt überlege ich, was ich tun kann. Doch plötzlich höre ich Oma Gertrud sagen: „Meine Familie ist auch weit weg. Hast du vielleicht Lust mir deine Bastelarbeiten zu zeigen?“ Najim nickt. Dann verziehen sich seine Mundwinkel und … er lächelt. Juchu, ich bin ja doch ein richtiger Weihnachtsengel! Bald sitzt Oma Gertrud mit dem Buben in der Leseecke und liest ihm vor. Bevor wir gehen, vereinbart sie mit der Lehrerin, dass sie ab jetzt regelmäßig in die Schule kommen wird. Najim ist ganz alleine aus einem fernen Land gekommen und Oma Gertrud möchte ihm gerne helfen. Die Lehrerin macht sie zu Najims Lesepatin und Schreiben üben darf sie mit ihm auch. Auf dem Heimweg summt Oma Gertrud fröhlich Weihnachtslieder vor sich hin.

Als ich es mir wieder auf meinem Platz am Kamin gemütlich mache, bemerke ich zufrieden das Weihnachtsknistern rund um mich. Ihr wisst schon, das ist dieses besondere Knistern, das zu hören ist, wenn ein Mensch einem anderen ein wenig Glück, Geborgenheit und Hoffnung schenkt.

Christine Auer studierte Psychologie und Jus und arbeitet heute als Autorin und Trainerin. Seit 2016 schreibt sie Bücher für Kinder und Jugendliche, verfasst Lesegeschichten für die Schülerzeitschriften von „Gemeinsam Lesen“, hält Schreibwerkstätten für Kinder, engagiert sich in der Leseförderung und entdeckt überall neue Ideen für Geschichten. Ihre Texte wurden mit verschiedenen österreichischen Preisen ausgezeichnet (Dixi Kinderliteraturpreis 2015, Mira Lobe Stipendium 2020). Sie lebt und arbeitet in Wien – mit ihrer Familie und zwei Katzen, die am liebsten auf der Computertastatur schlafen.

www.christineauer.at

Foto © Martin Ludl