Weihnachtspost

von Ella Scheer

Der frisch gefallene Schnee knirschte unter seinen Schuhen. Die Aussicht auf eine weitere Runde Schaufeln und Streuen gefiel Jonas gar nicht, aber seine Mutter wurde heute aus der Reha zurückerwartet und sollte sich nicht gleich noch einmal die Hüfte brechen. Gemeinsam mit seiner Frau wollte er ihr demnächst nahelegen, ihre Wohnung gegen ein Seniorenheim zu tauschen. Da war sie in Zukunft besser aufgehoben, sonst kam sie womöglich noch auf die Idee, bei ihm einzuziehen. Helen würde die Scheidung verlangen. Außerdem sollten seine beiden Kinder aus erster Ehe bald auf die Uni gehen, da war eine günstige Unterkunft in Innenstadt-Lage gefragt.

Der Postkasten am Gartentor ging förmlich über: Die üblichen belanglosen Weihnachtskarten von entfernten Verwandten, die einmal jährlich ihre Existenz in Erinnerung brachten und Spendenaufrufe von allen möglichen Institutionen. Die Versandkataloge und einen dicken Packen an Werbematerial entsorgte er gleich in der Papiertonne, bevor sie bei seiner Frau Bedürfnisse wecken konnten, für deren Befriedigung er dann bezahlen musste.

Auf dem Weg zurück ins Haus blieb sein Blick an einem Brief hängen. Die Adresse war von Hand geschrieben, die Briefmarke fremdländisch. Der Absender-Vermerk war feucht geworden und bis zur Unleserlichkeit zerlaufen – ein langer Doppelname, der ihm nichts sagte. „Schatz, kennen wir jemanden im Ausland?“ Seine Frau war gerade damit beschäftigt, den Festtagsbraten im Backrohr noch einmal zu übergießen. „Nicht, dass ich wüsste.“ Diese Bettelbriefe wurden auch immer dreister. „Oh, so eine schöne Briefmarke! Darf ich die haben, Papa?“ Seine 10jährige Tochter Julia ließ die Schachteln mit dem Weihnachtsschmuck links liegen und schnappte sich den Brief. Jonas machte sich auf die Suche nach dem Streusalz.

„Mama, wo ist Madagaskar?“  „Da, wo der Pfeffer wächst.“ Das Telefon klingelte und Helen nahm ab. „Dein Bruder ist dran!“ Bernd sollte die alte Dame aus der Klinik abholen und eigentlich schon unterwegs sein. Jonas nahm den Hörer: „Wo bleibt ihr denn? Du weißt, Helen will pünktlich essen.“ Er lauschte eine Weile, wobei sich sein Gesichtsausdruck von Ungläubigkeit zu Empörung wandelte: „Was soll das heißen, sie ist nicht mehr da?“ Helen unterbrach das Soßen-Mixen, Jonas schaltete Bernd auf Lautsprecher: „Die sagen, sie hat sich schon vor zwei Wochen selbst entlassen. Sie könnte Gott weiß wo sein …“ „Und wieso hat uns keiner informiert? Eine Unverschämtheit, ich werde den Laden verklagen!“

Und an seine Frau gewandt: „Helen, lass den Braten stehen, wir müssen zur Polizei gehen – meine Mutter wurde offenbar entführt!“ Seine Frau runzelte die Stirn. „Wer käme denn auf so eine Idee?“ „Liest du denn keine Zeitung? Nichten-Trick, Neffen-Trick, Heiratsschwindler – die lauern doch heutzutage überall!“ „Heiratsschwindler? Deine Mutter ist fast 70!“ „Na eben, in dem Alter kommt man auf die seltsamsten Ideen!“ „So wie dein Vater, meinst du?“ Jonas verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Dass sich sein Vater wenige Jahre vor seinem Tod noch in eine wesentlich jüngere Frau verliebt hatte, schien seine Mutter nachhaltiger traumatisiert zu haben als vermutet. Und Helen nützte jede Gelegenheit, die Anlass zur Eifersucht bot, um zu suggerieren, er hätte womöglich dessen Gene geerbt.

„Papa, was heißt durchbrennen?“ „Das ist, wenn man einen Kurzschluss in der Birne hat.“ „Können Menschen auch durchbrennen?“ „Ja, aber das erklär ich dir, wenn du älter bist. Sag mal, was liest du denn da überhaupt?“ „Den Brief von der Oma.“ Jonas vergaß, dass sein Bruder noch in der Leitung hing, legte auf und griff nach dem mit Tinte beschriebenen Papier. Fassungslos begann er zu lesen:

Liebe Familie! Ich schreibe euch aus Madagaskar, wo ich mich von der Reha erhole. Der Klinikaufenthalt wäre sterbenslangweilig gewesen, hätte ich dort nicht so tolle Männer kennengelernt. In einen hab ich mich sofort verliebt. Letzte Woche haben wir geheiratet. Leider konnten wir niemanden einladen, weil seine Verwandten hinter uns her sind. Diese herzlosen Geizkrägen wollen ihn entmündigen lassen und ins Heim stecken. Er sei verrückt geworden, sagen sie. Dabei hatte er nur einen Herzinfarkt und keinen Schlaganfall. Die sind nur hinter seinem Geld her. Also haben wir beschlossen, gemeinsam durchzubrennen. Sobald wir aus den Flitterwochen zurück sind, werden wir eine Wohngemeinschaft für ältere Leute gründen. Bis dahin müsst ihr ohne mich auskommen. Ich wünsche euch ein wunderschönes Weihnachtsfest und habt ein bisschen Spaß, das Leben ist kurz!

Helen riss ihrem erblassten Mann den Brief aus der Hand. „Das ist doch bestimmt eine Fälschung, lass mich mal die Handschrift sehen…“ „Es war auch ein Foto dabei“, meldete sich Julia und hielt ein Polaroid-Bild hoch. Es zeigte eine lächelnde ältere Dame in Hippie-Kleidung auf dem Rücksitz eines Mofas. Am Lenker war ein rüstig aussehender älterer Herr zu erkennen, im Hintergrund ein Palmenstrand.

Wie in Trance wanderte Jonas zum Wohnzimmerschrank, wo er den Verdauungs-Schnaps gelagert hatte.

PS, las seine Frau. Um meine Wohnung müsst ihr euch nicht mehr kümmern – die hab ich verkauft. Wir brauchen schließlich Startkapital für unser WG-Projekt, und so eine Weltreise ist ja auch nicht ganz billig. Herzliche Grüße von Maria & Josef!

Ella Scheer ist angehende Autorin und Ghostwriter.