Befreit!

von Lisa Keskin

Als Chrissie an diesem Morgen im lichtdurchfluteten Schlafzimmer ihres Penthouses aufwacht, fühlt sie sich das erste Mal seit langer Zeit frei. So, als wäre eine schwere Last von ihren schmalen Schultern gefallen. Sie räkelt sich im Bett, ihre Haare umrahmen ihr Gesicht wie ein goldener Stern. Als sie mit dem Finger eine ihrer Locken berührt, beschließt sie: „Ein Friseurbesuch muss auch bald sein!“

Doch für den Augenblick fasst sie ihre goldene Haarpracht einfach mit einem Gummiband in einen „Just-out-of-bed“-Dutt zusammen und springt auf. Selig schwebt sie in die Küche, wo sie als erstes ihren Zaubertrank braut, ohne den sie morgens schwer in die Gänge kommt. Ha! Gekommen ist, sollte sie sagen! Denn jetzt hat sich alles geändert! Seit sie alles geregelt hat, scheint ihr Körper regelrecht aufzublühen. Ihr Lächeln ist bezaubernd wie eh und je, und man hört sie leise vor sich hinsingen. Das Leben ist schön!

Beim Anziehen wirft sie im Spiegel einen Blick auf ihre Narben und zieht scharf die Luft ein. Daran wird sie wohl immer zu knabbern haben! Doch nun ist es ja vorbei.

Bevor sie ihren flauschigen Mantel überzieht, um die ersten Geschäfte des Tages zu erledigen, checkt sie noch einen Termin bei ihrem Arzt. Online – wie schön, dass so etwas heutzutage möglich ist! Früher war das alles viel komplizierter! Und dass heute Diversität angesagt ist, macht ihr das Leben auch viel leichter. Früher, ja früher … da musste sie oft fliehen. Weil man sie für eine Hexe gehalten hat, trotz ihres lieblichen Gesichts – oder gerade deswegen. Die Pfaffen, das muss man jetzt einmal festhalten, hatten schon ordentliche „issues“, wie man heute sagt. Angst davor, ihre Macht zu verlieren und Neid auf alles, das anders oder begabter war. Dabei wollte sie immer nur geben und Gutes tun! Damit hat sie sich schließlich ihren Ruf aufgebaut, ihr Image, sozusagen.

Trotzdem war es schön gewesen – bis ER kam! Am Anfang war er noch bescheiden, er hielt Abstand. Baute sich seine „Crowd“ auf, unbemerkt, hinterhältig, heimtückisch. „Kinder, kommt, ich hab was für euch!“ Widerwärtiger Geselle!

Ganz nahe ist er ihr gekommen, bis er schließlich versuchte, sie zu stürzen. Nein, schlimmer noch! Sie unter seine Macht zu bringen. Und dann, irgendwann ist es passiert.

Eines Tages, es war Anfang Dezember vor vielen vielen Jahren, tauchte er wieder einmal auf. Nur dann, anstatt wie üblich zu seiner Kaschemme in Alaska zurückzukehren, blieb er. Mietete sich ein luxuriöses Kutscherhaus am Stadtrand und hielt im uneinsehbaren Garten seine Tiere. Diese hässlichen Pferde mit Hörnern.

Ein paar Tage später stand er einfach vor der Tür ihres Penthouses, mit diesem falschen süßlichen Grinsen unter seinem Hipsterbart und einer Schachtel Pralinen.

Die Pralinen, die waren schuld! Süßigkeiten konnte sie noch nie widerstehen, und so bat sie ihn herein. Was für ein Fehler!

Auf ihrem weißen Sofa aus feinstem Samt saß er ihr gegenüber und beobachtete, wie die kleinen feinen Schokoladenkunstwerke zwischen ihren Lippen verschwanden. Bis heute hat sie diesen Geschmack auf der Zunge. Fein, unwiderstehlich – und absolut giftig!

Sie spürte zu spät, dass sie immer schwächer wurde, wie die Magie aus ihrer Seele entwich. Als sie es wahrnahm, konnte sie trotzdem nicht aufhören, weiterzuessen. Die Anziehungskraft dieser Pralinen war unglaublich! Keine Ahnung, wie er an dieses Rezept gekommen ist – und jetzt kann sie ihn nicht mehr fragen. Das wird sie wohl nie erfahren!

Doch zurück zu diesem schicksalshaften Abend. Das letzte, woran sie sich erinnert, ist dieses leichte Ziehen im Kopf und in ihrem ganzen Körper, dann das Gefühl zu fallen. Und dann nichts mehr.

Als sie wieder zu sich kam, war sie in einem Kellerraum. Feucht war es, kalt. Und sie war mit schweren Ketten an den Metalltisch gefesselt, auf dem sie lag. Nackt. Doch das war nicht das Schlimmste: Der Schmerz hinter ihren Schulterblättern brachte sie fast um. Die Flügel!

Er hat meine Flügel gestohlen! Woher hat überhaupt von deren Existenz gewusst? Ich habe mich nie fotografieren lassen – es gibt nur ein paar Malereien, auf denen ich immer etwas verklärt dargestellt wurde, mit Heiligenschein und dem ganzen Mist.

Als ihr Blick im Raum kreiste, fiel er auf eine blonde Strähne, die neben ihr auf dem Tisch schimmerte. Ihr eigenes Haar. Aber blond? Was hatte dieser Mistkerl mit ihrer schönen roten Mähne gemacht?

Verzweifelt strampelte sie, versuchte, freizukommen. Doch es war zwecklos.

Als er später zu ihr kam, befreite er sie, wohl wissend, dass sie nicht mehr fliehen konnte. Stolz und mit einer gewissen Häme im Gesicht hielt er ihr einen riesigen Spiegel vor die Nase, und sie traute ihren Augen nicht. Sie war jemand anders! Eine blonde vollbusige Schönheit. Wo war SIE geblieben? Ihre androgyne Gestalt, ihre pechschwarzen Augen? Ihre wallende rote Mähne?

„Von nun an wirst du mir immer unterlegen sein. Du wirst nur noch für deine Schönheit bewundert, du Barbieverschnitt – deine Macht über die Kinder und die leichtgläubigen Erwachsenen kannst du vergessen! Und du wirst für mich arbeiten – alle werden nur noch meinen Namen kennen. Du wirst nicht mehr als eine schale Erinnerung aus der Vergangenheit sein!“

Ganz ist sein Plan nicht aufgegangen, nie. Aber dennoch wurde der Ruf nach ihr immer leiser. In manchen deutschsprachigen Ländern blieb sie der Hit, aber dieser beschissene Klaus nahm immer mehr von ihrem Ruhm in Anspruch. Dieser fette, alte Trottel mit dem Motorschlitten. Nicht einmal fliegen konnte er!

Als er dann auch noch begann, für alle möglichen Großkonzerne Werbung zu machen, reichte es ihr. Aber sie war ihm hilflos ausgeliefert. Auch wenn sie gewisse Freiheiten hatte, manchmal sogar in ihrem eigenen Bett in ihrem wunderschönen, von ihr so geliebten Penthouse schlafen durfte, sie war mit dieser Magie an ihn gebunden.

Bis … bis zu dieser Nacht vor ein paar Tagen. Sie hatte vorher schon festgestellt, dass sie sich immer wieder von Zeit zu Zeit ein bisschen freier fühlte, dass die Schwere in ihren Gliedern etwas nachließ. Womit das zusammenhing, konnte sie sich lange nicht erklären, bis zu jenem Abend, als sie ihn das erste Mal mit IHM sah. Mit diesem stark behaarten, schwarzhaarigen Geschöpf, das so teuflisch gut aussah. Sie konnte die beiden unbemerkt bei ihrem Treiben beobachten, hörte ihren Peiniger lustvoll stöhnen, als der Schwarzhaarige ihn mit seinem Pfahl behandelte. In dem Augenblick, als ihr Widersacher mit einem letzten lustvollen Seufzen auf der Stätte seines schändlichen Treibens in sich zusammensackte, ließ für kurze Zeit der Druck auf ihren Körper nach und sie fühlte sich fast so schwerelos und stark wie damals, bevor er sie zur Geisel genommen hatte.

Sie dachte nach – und bereitete sich vor. Endlich war es wieder so weit. Ihr Peiniger hatte sich seinen Bart gestutzt und sich mit einem aufdringlichen After Shave besprüht, er war spürbar nervös. Sein Geliebter würde bald kommen. So und so.

Wieder versteckte sie sich an einer unauffälligen Stelle und wartete ab. Just in dem Moment, in dem sich die teuflische Lust über ihren Widersacher ergoss, schritt sie zur Tat, und der böse Spuk war endlich vorbei.

°°°°°°°°°°

Einmal muss sie noch zum Kutscherhaus. Heute muss der Rest erledigt werden. Sie fährt lächelnd quer durch die Stadt, schließt die Tür auf und tritt in den Salon, in dem sich die blutige Bescherung ereignet hat. Sie krallt ihre Finger in den weißen, frisch gestutzten Bart von Santa Klaus, wie die Kinder ihn immer genannt haben, schleudert seinen Kopf in einen Jutesack und verpackt ihn in eine Postbox. Den wird sie an die Coca-Cola-Company schicken, mit bestem Dank für nichts. Der Alte hat einen ganzen Truck bekommen, sie selbst haben sie die ganzen Jahre einfach ignoriert.

Den Rest des Alten schiebt sie ins prasselnde Kaminfeuer. Das Fell des Teufels hat sie schon abgezogen – das geht zum letzten Gerber, der in der großen Stadt noch seinen Dienst versieht. Es wird in Zukunft vor ihrem eigenen Kamin liegen, als Mahnmal, dass sie nie mehr so leichtgläubig sein darf. Nie mehr!

Die Rentiere hat sie schon vor ein paar Tagen freigelassen und wegfliegen lassen, gleich, nachdem sie Santa in seiner sexuellen Ekstase enthauptet und den Teufel mit Weihwasser übergossen hat.

Auf dem Weg nach draußen kippt sie den Inhalt einer blauen Dose hinunter, einen Softdrink, für den sie seit einigen Jahren als Testimonial arbeitet. „Hoffen wir, dass es stimmt, was sie in der Werbung sagen, dass das Zeug wirklich Flügel verleiht!“

Lisa Keskin ist Lehrgangsleiterin der Ghostwriting Academy und Ghostwriter.

Mehr über sie gibt’s hier.