I saw Sonny kissing Nikolaus

von Ursula Rathensteiner

„Wenn du nicht kommst, rede ich nie wieder ein Wort mit dir! XOXO“. Die eigentliche Nachricht war eine Einladung zur alljährlichen Krampus-Party. „Alex und ihr Hang zur Dramatik!“, dachte Sonja und verdrehte innerlich die Augen. „Aber ich muss wohl hin.“ Eigentlich graute der Mittdreißigerin vor diesem feierlichen Anlass. Von Party konnte nämlich nicht einmal mehr die Rede sein. Früher einmal ja, als noch alle aus dem Freundeskreis jung und single waren. Aber jetzt? Viele der einstigen Partytiger waren nun sogar schon verheiratet, hatten Kinder. Oder hatten, wie ihre beste Freundin Alex, zumindest einen liebevollen Partner und eine funktionierende Beziehung. Sonja konnte nichts davon vorweisen, weshalb sie die Weihnachtszeit mit ihren süßlichen Düften, der Dauerbeschallung mit kitschigen Romantiksongs und der Zurschaustellung von Love all around eher mit Frustration als mit Vorfreude erfüllte. Plink! Noch einmal Sonjas Handy: Ein Foto von einer Tasse mit der Aufschrift „Feliz Navidad“. Ugh.

Schon von weitem konnte Sonja sie hören, diese grauenvollen Töne, die immerhin noch leise aus dem Haus ihrer Freundin drangen, als sie aus ihrem warmen Auto stieg. Unverkennbar, „I’m dreaming of a white Christmas“. Wieso wusste sie das eigentlich? Sonja konnte dieser peinlichen Tatsache nicht weiter auf den Grund gehen. Auf ihr Klopfen hin öffnete Alex nämlich schon die Tür. Chris und Susi, Miri, Richie, Oliver und die Gastgeberin – die alte Gang mit nur teilweise neuen Partnern. Alle hatten sich im mit Mistelzweigen, Sternen und roten Söckchen dekorierten Raum versammelt. Alle sahen glücklich aus, lachten, die Backen gerötet. Manche wippten sogar im Takt mit der Musik, gerade noch vorsichtig genug, dass sie die Flüssigkeit in ihren weihnachtlichen Tassen nicht verschütteten. The most wonderful time of the year – not, zumindest für Sonja. Mit zusammengebissenen Zähnen und einem ironischen Lächeln wagte sie sich in die Höhle des Löwen, um alle zu begrüßen. „Immerhin sind wir Erwachsenen unter uns“, fiel Sonja auf, obwohl sie sich trotz des scheinbaren Kinder-Verbots nicht gerade große Hoffnungen auf einen für sie schönen Abend machte. Alex drückte ihr die Tasse vom Foto in die Hand. „Extra für dich, Sonny!“, flüsterte sie mit einem verschmitzten Grinsen. Vorsichtig kostete Sonja das orangerötliche Heißgetränk. Es schmeckte gar nicht so scheußlich. „Hot Aperol für mein Sommermädchen, sogar wenn es draußen schneit und fast schon nach Winter-Wonderland aussieht.“ Musikalisch war nun Rudolph mit der roten Nase dran, gefolgt von „Sleigh Ride“. Als wäre das nicht schon schlimm genug! Punkt acht Uhr klingelte es auch noch an der Tür: Ein rot gewandeter Mann mit weißem Rauschebart, Bischofsmütze und bunten Sneakern, die nicht so ganz ins Bild passten, stand draußen. Begleitet wurde er von einem dunklen, haarigen Gesellen mit Larve, Teufelsschwanz und einem schwarzen Plastikdreizack mit roten Zacken. Der Krampus und der Nikolaus traten ihren Besuch an. Wie absolut kindisch und definitiv jenseits der Erträglichkeitsgrenze! Sonja brauchte mehr Hot Aperol, um das irgendwie durchstehen zu können. Der Nikolaus konsultierte nämlich sogar noch sein kleines schwarzes Büchlein, um zu sehen, wer von den Gästen in diesem Jahr brav und wer schlimm gewesen war. Zu den Klängen von „Little Drummer Boy“. „Auf meiner Liste der guten Kinder sehe ich Alex, Miri, Oliver, Susi, Sonja und Richie“, verkündete der Nikolaus feierlich „Nur Chris war böse“, fügte er hinzu, woraufhin der Krampus seinen schwarzen Plastikdreizack hervorholte und Chris damit fest pikste. Sonja verdrehte die Augen, innerlich sicher, wahrscheinlich auch ein kleines bisschen nach außen. Vielleicht war das ja naughty genug, um auf die Liste der schlimmen Kinder zu kommen …

Einige Hot Aperol später war die Musik immer noch grauenhaft. „Santa Baby“ kann nicht einmal ganz viel Alkohol annähernd erträglich machen, ein Ding der Unmöglichkeit. Der Gesang von Sonjas bester Freundin war übrigens ebenso unerbittlich. Vor allem, wenn Alex lauthals „All I want for Christmas“ schmetterte oder wie jetzt gerade beim „This year, to save me from tears“ nicht einmal einen einzigen Ton traf. Die wie erwartet familienorientierten Gesprächsthemen konnten den Abend auch nicht retten. Sonja wusste, dass die anderen es gut meinten und versuchten, sie mit der Weihnachtsmagie anzustecken. Sie konnte das aber nicht zulassen und verzog sich mit ihrer Tasse und ihrem Hochmut, gepaart mit einem Hauch Kummer, in eine Ecke. „Auch ein Fellow Grinch?“, flüsterte plötzlich eine männliche Stimme neben ihr. Fast hätte Sonja ihr Heißgetränk fallen gelassen. „Woran erkennt man denn das, wenn ich fragen darf?“, versuchte sie ihre Coolness zu bewahren. Der große Typ mit den blonden Locken und den auffälligen Schuhen sah definitiv hot aus. „Du singst nicht einmal bei „Happy Xmas“ mit und dein Blick spricht Bände!“ Erwischt! „Darf man als Nikolaus überhaupt Grinch sein?“, konterte Sonja und deutete auf die bunten Sneaker, die den Herrn verraten hatten. „Tom, der Krampus, und ich haben eine Wette gegen Chris verloren, deshalb der weiße Bart und die Mütze.“ „Was denn für eine Wette?“ „Glaub mir, das willst du gar nicht wissen!“, grinste der Nikolaus in lässigen Privatklamotten. „Und wenn doch?“ Sonja ließ nicht locker, wahrscheinlich vom Hot Aperol ermutigt. „Dann verrate ich es trotzdem nicht, schöne Frau!“ Der attraktive Typ sah Sonja noch immer ziemlich genau an, seine Augen funkelten neugierig. Das ging wohl gerade noch als Schauen durch, war aber nah an Anstarren dran. Als „Underneath the Tree“ an ihre Ohren drang, schüttelte der nicht ganz freiwillige Nikolaus lachend den Kopf. „Was ist denn so witzig?“ „Das Lied inspiriert mich irgendwie … zumindest zu einem miesen Anmachspruch. Sorry.“ Verlegenes Lächeln. Sonja sah ihren Gesprächspartner fragend an, die Augenbrauen zusammengezogen. „Nein, der ist wirklich schlimm!“ „Raus damit!“ Sonjas linke Braue wanderte nach oben, ihr Blick war nachdrücklich und herausfordernd. „Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt! Stehst du eigentlich auf Fakir-Sex? So wegen der Nadeln unterm Weihnachtsbaum und so …“ Sonja prustete los. „Den brauchst du mir nicht erklären, so nice und unschuldig bin ich auch wieder nicht. Und ja, er ist wirklich grottenschlecht.“ Der Nikolaus grinste, mehr verschmitzt als verlegen. „Kann ich eine Wiedergutmachung anbieten?“ Sonjas Mundwinkel verzogen sich, ihre Skepsis war kaum noch zu übersehen. Wollte er sie jetzt echt küssen, ohne ihr seinen Namen zu verraten? Der Nikolaus lachte etwas beschämt. „Nein, nicht das, was du vermutlich jetzt denkst. Das wäre zwar bestimmt auch schön, aber mir ist gerade etwas anderes eingefallen.“ Der Nikolaus zückte sein Handy und holte ein Paar kabellose In-Ear-Kopfhörer aus der Hosentasche. Einen davon reichte er Sonja. „Wir brauchen gute Musik und kein Katzengejaule!“ Ein paar Wischer am Smartphone später, und die Playlist mit härteren Weihnachtsklängen war geöffnet. „Merry Christmas, kiss my ass“ schaffte es zwar nicht, die nervtötende gesungene Bitte um Schnee zu übertönen, aber für Sonjas Ohren war es trotzdem eine Wohltat. Bei „The Season’s upon us“ wagte sie ein Tänzchen mit dem Nikolaus, vom schnellen Rhythmus der Dropkick Murphys getragen. Ein wenig später ließ sie sich gar dazu hinreißen, mitzusingen. Oder eher zu kreischen. „I’ll burn it to the ground“, stimmte ihr Partner mit ein. Ein wunderbares Anti-Weihnachts-Duett. Euphorisiert – ob vom Hot Aperol oder der treibenden Musik wusste sie nicht – kam Sonja ihrem für sie noch namenlosen Nikolaus immer näher. Für gemeinsames Headbangen. Ausgerechnet als die Zeilen „I don’t want to kiss under the mistletoe“ an ihre Ohren drangen, kamen ihre Gesichter einander so nah, dass sich ein Kuss nicht mehr verhindern ließ. Nicht einmal, wenn Sonja oder der Nikolaus das überhaupt gewollt hätten. Übrigens schmeckten die Lippen des Mannes mit dem unvergleichlich exquisiten Musikgeschmack fast so gut wie der Hot Aperol in Sonjas Tasse.

Als Sonja und der Nikolaus die punkige Weihnachtsplaylist in ihrer privaten Ecke beinahe durchgehört hatten, schien sich die Feier schön langsam aufzulösen. „Du fährst nicht mehr heim, auch wenn bald Weihnachten ist“, merkte der Nikolaus an, „Zu viel Aperol!“ „Und was ist mit dir? In deiner Tasse war sicher kein Alkohol, oder?“, konterte Sonja provokant und versuchte, das leichte Lallen in ihrer Stimme so gut wie möglich zu unterdrücken. „Ich könnte dich ja nach Hause begleiten. Ich glaube, wir wohnen nicht allzu weit voneinander entfernt. Jedenfalls ist mir fast jeden Morgen eine wunderschöne Frau aufgefallen, die dir zum Verwechseln ähnlichsieht.“ „Das ist eine gute Idee. Keiner von euch beiden sollte noch in ein Auto steigen. Und Hannes wohnt echt nur zwei Straßen entfernt von dir, Sonny! So weit ist der Weg außerdem auch wieder nicht“, mischte sich Alex ein. „Und was ist mit unseren Autos? Die bringt dann wohl Santa Clause in die Stadt?“, fragte Sonja sarkastisch. „Die könnt ihr ja morgen oder so abholen“, schlug die Gastgeberin vor.

Sonja ließ sich schlussendlich breitschlagen. Geld für ein Taxi wollte sie definitiv nicht ausgeben. Ein bisschen mehr Zeit mit dem feschen Nikolaus, der immerhin ziemlich gut küssen konnte, klang zudem nicht unbedingt wie die reinste Hölle auf Erden. „Ich habe auch noch eine zweite tolle Weihnachts-Playlist. Metal-lastig. Die reicht bestimmt für den Heimweg!“, versicherte Hannes, augenzwinkernd. Vorsichtig legte er einen Arm um Sonja. Und so machten sich die beiden gemeinsam auf, jeder einen der kabellosen Kopfhörer und daraus jede Menge Gitarrenriffs im Ohr. Nach etwas mehr als einer halben Stunde waren sie vor Sonjas Wohnhaus angekommen. „Wir könnten ja morgen gemeinsam unsere Autos holen. Es gibt noch ganz viele etwas andere Weihnachtslieder, die dir bestimmt gefallen werden“, schlug Hannes mit hoffnungsvollem Blick vor, nachdem Sonja ihm den Kopfhörer zurückgeben und ihn flüchtig zum Abschied auf die Wange geküsst hatte. „Ich würde dich nämlich echt gerne wiedersehen. Und nicht nur aus der Ferne“, fügte er noch hinzu. Sonja brauchte einige Augenblicke, um sich zu sammeln, so direkte Komplimente war sie nicht gewohnt, misstraute ihnen ein wenig. „Das klingt gut!“, sagte sie daher etwas zaghaft. Und hoffte insgeheim, dass es nicht nur die Nachwirkungen vom Hot Aperol waren, die ihr dieses angenehm warme Gefühl bescherten.

Ja, diese Geschichte hält auch ein Rätsel für Weihnachts- und/oder Musik-Nerds bereit: Wie viele Xmas-Songs in der einen oder anderen (leicht abgeänderten) Form haben sich denn versteckt? Lösungsvorschläge bitte direkt an Santa Clause!

Ursula Rathensteiner ist Ghostwriter und Autorin.

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