Das Landhaus

von Birgit Palasser

„Wachen Sie doch endlich auf, der Bus hat seine Endstation erreicht!“, dröhnte es mit lauter und tiefer Stimme an ihr Ohr. Gleichzeitig rüttelte ein kräftiger Arm an ihrer Schulter. Sie musste eingenickt sein, ihr Kopf lehnte an einer kalten Scheibe und im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war. Alles in ihrem Körper fühlte sich schwer und müde an. Und sie war hungrig. Als sie ihre Augen aufschlug, blickte sie in ein Gesicht, das sie zwar freundlich, aber sehr bestimmt ansah. „Bitte steigen Sie jetzt aus. Es ist Weihnachten und ich möchte zu meiner Familie nach Hause“, sagte der junge Mann – es musste der Buschauffeur sein.

Johanna erhob sich, griff nach ihren Taschen und stieg aus. Draußen war es finster und kalt, sie zog den Schal fester um ihren Hals und setzte sich die Wollmütze auf. Es schneite und der Wind blies Eiskristalle in ihr Gesicht.

Da stand sie, an der Endstation, ganz allein mit ihren schweren Einkaufstaschen, voll mit Lebensmitteln und dem Lebkuchen, den sie gleich nach Dienstschluss in der Konditorei eingekauft hatte, noch bevor sie in den Bus eingestiegen war. Sie wollte in das Dorf mit dem kleinen Landhaus fahren, um dort mit ihrer Tochter den Weihnachtsabend zu verbringen und nun war sie zu weit gefahren. Eine Station zu weit, ein zusätzlicher Fußweg von einer Stunde stand ihr bevor. Sie machte sich auf den Weg. Weit und breit war niemand zu sehen, der sie ein Stück des Weges mitnehmen hätte können, so war es am Land: Sobald es finster war, war niemand mehr draußen, schon gar nicht heute am Weihnachtsabend. Johanna nahm all ihre Kräfte zusammen und ging los. Langsam begann sich ihre Müdigkeit zu verflüchtigen und Vorfreude stieg auf. Sie würde den Kachelofen einheizen und das Weihnachtsessen vorbereiten, wie all die vielen Jahre davor. Und auf ihre Tochter Sarah warten, vielleicht wäre sie ja schon da. ‚An Weihnachten sehen wir uns wieder!‘, hatte diese gerufen, als sie in den Zug eingestiegen war und sich auf ihre große Reise gemacht hatte. Sie hatte hinausgewollt aus der Kleinstadt und das Leben genießen, die Welt erkunden und ihren eigenen Weg finden.

Als Johanna an ihrem Haus ankam, war der Weg bereits vom Gartentor bis zur Haustür tief verschneit. Es waren keine Spuren zu sehen und auch im Haus war es finster. Sarah war also noch nicht da. ‚Gut so‘, dachte Johanna. Wenn auch ihre Tochter Verspätung hatte, würde ihr nun doch noch genug Zeit bleiben, alles vorzubereiten. Johanna stapfte zur Haustür und öffnete diese mit dem Schlüssel – der war wie immer im Blumentopf versteckt, damit Sarah jederzeit ins Haus käme.

Johanna wollte zuerst den Ofen einheizen, das Holz war schon vorbereitet, die Zündhölzer lagen bereit – noch vom letzten Jahr. Die Flammen erleuchteten ihr Gesicht, die erste wohlige Wärme stieg in ihr auf. Hunger! Da war er wieder, und Johanna holte aus der Einkaufstasche die Box mit Lebkuchen. Genau den hatte Sarah so gerne, wie würde sie sich darauf freuen! Johanna ließ den Schokoladenüberzug in ihrem Mund schmelzen und ein leichtes Lächeln zauberte sich in ihr Gesicht; sie freute sich auf den Abend, auf Sarah.

Als der Braten im Rohr bereits zu duften begann, deckte Johanna den Tisch. Die schwere weiße Leinentischdecke, das Silberbesteck ihrer Großeltern, das Kristall und Porzellan, das sie von ihren Eltern damals zur Hochzeit bekommen hatte und die dunkelroten Kerzen schmückten nach kurzer Zeit den Esstisch. Johanna hatte auch noch ein paar Tannenzweige und Nüsse daraufgelegt, eine Flasche Rotwein stand bereit.

Nun war es so weit, ein schönes Kleid aus dem Kasten zu holen, sich umzuziehen und ein wenig Make-up aufzutragen. Sarah sollte Johannas müde Augen, die tiefen Falten an der Stirn und die oftmals traurig wirkenden Mundwinkel nicht sehen. Sie wollte ihrer Tochter frisch, jung und voller Energie begegnen nach dieser langen Zeit. Als sie den Lippenstift auftrug, hatte Johanna das Gefühl, dass jemand an der Haustür war. Sie wartete auf das Rufen ihrer Tochter, auf das „Mama!“, welches nur Sarah so betonen konnte, auf dem zweiten A, sodass es ein wenig exotisch klang. So war sie schon immer. Sie wollte es exotisch. Ihr Zimmer war mit farbenfrohen Boxen, mit Pflanzen und bunten Decken geschmückt. Und die Bücher, die Sarah las, die Musik, die sie hörte, alles klang nach einer anderen Welt, weit weg. Denn hier war es ihr zu langweilig, zu gewöhnlich und zu ruhig. Nur an Weihnachten liebte sie es einfach, so wie hier im Landhaus; ein wenig Idylle war ihr zu Weihnachten recht.

Johanna warf einen Blick in den Spiegel und lächelte sich selbst zu, ging mit klopfendem Herzen und zitternden Händen langsam die Holzstiegen hinunter,. Wie aufgeregt sie war, Sarah wiederzusehen!

Sie ging zur Haustür, der Holzboden knarrte, langsam drehte sie den Schlüssel im Schloss um, öffnete die Tür und sah hinaus. Die kalte Luft nahm ihr fast den Atem und ihr Blick ging zum Gartentor. Der Schneefall hatte ihre eigenen Spuren bereits überdeckt. Und es gab keine neuen Fußspuren, keine Spuren von Sarah.

Tränen stiegen in Johanna hoch, sie schloss die Tür und ging ins Wohnzimmer, setzte sich an den Tisch, füllte das Glas mit dem Rotwein und blickte auf Sarahs Bild im silbernen Rahmen. Fünf Jahre war es schon her. ‚Sarah kommt nicht wieder‘, mit diesem Gedanken griff Johanna nach einem Stück Lebkuchen. Gerade an Weihnachten konnte sie sich nicht daran gewöhnen.

Birgit Palasser ist Ghostwriter, Autorin und Stilberaterin.

Mehr zu ihr findest du unter https://dein-stil.at/