Die neutrale Erzählperspektive: der Blick von oben, aber niemals in die Tiefe
Die neutrale Erzählperspektive ist das genaue Gegenteil zum allwissenden Erzähler (Link zum Blogartikel). Und vermutlich jene Perspektive, die wir am wenigsten verwenden. Warum das so ist, ist leicht erklärt: Der neutrale Erzähler erzählt die Geschichte weder aus der Sicht einer Figur noch bewertet er das Geschehen oder die Charaktere. Daher auch der Name.
Neutralität ist nicht unsere Stärke
Uns fällt es aber schwer, etwas rein sachlich, nüchtern und disanziert zu erzählen und nicht zu interpretieren. Genau das macht die neutrale Erzählstimme aber. Sie schaut – wie der auktorale Erzähler (Link) – ebenfalls aus einer Kameraperspektive auf die Figuren, beschreibt aber nur, was rein äußerlich wahrnehmbar ist: Körpersprache, gezeigte Emotionen, Handlung, laut Ausgesprochenes. Und das eben ohne jegliche Wertung oder Interpretation.
In unserem Lehrgang widmen wir dem Thema „Perspektiven“ einige Zeit. Unsere Teilnehmer:innen bekommen eine Bildgeschichte (ja, alle hassen Bildgeschichten!) und müssen sie aus den unterschiedlichen Perspektiven beschreiben. Bei der neutralen Perspektive kommt immer die Frage: Wo hört die Beschreibung auf und fängt die Bewertung an?
Beispiel: Stell dir ein Bild von einem Mann vor, der eine Frau ansieht und dabei eindeutig traurig aussieht. Alle, die du fragen würdest, würden dir bestätigen, dass dieser Mann traurig ist. Also schreibst du in deinem Buch folgenden Satz:
Er sieht sie traurig an.
Aber Achtung, traurig ist nicht mehr neutral, sondern eine Bewertung, also unsere Interpretation seines Gesichtsausdrucks.
In der neutralen Perspektive müsste man es also so machen:
Er sieht sie an. „Bist du traurig?“, fragt sie. Er nickt.
Diese Geschichte läuft wirklich linear ab
Die Geschichte entsteht daher vor allem durch die Dialoge oder Monologe. Was im Inneren der Menschen vorgeht, wissen wir als Leser:innen nicht, es sei denn, die Figuren sprechen es laut aus.
Rückblicke und Vorwegnahmen finden nicht statt: Die Geschichte wird rein linear erzählt.
Beispiel:
Susi ging zur Schule. Als sie dort ankam, schubste ein Klassenkamerad, Richard, sie.
„Wieso machst du das immer?“, fragte Susi ihn und fügte dann hinzu: „Du kannst mir nichts anhaben!“
„Es tut mir leid, ich weiß selbst nicht, wieso ich das mache!“, antwortete Richard.
Wir wissen also nicht, was in Susi und Richard vorgeht – außer, sie sprechen es laut aus. Die Beschreibung der Situation ist neutral, sie wird nicht bewertet, es werden den beiden keine Emotionen „unterstellt“.
Dadurch, dass es keine explizite Bewertung gibt und auch Zusammenhänge nicht explizit dargestellt werden, entsteht mehr Arbeit bei den Leser:innen. Oder, anders gesagt, wir haben als Leser:innen den Vorteil, dass wir uns unser ganz eigenes Bild machen können und nicht beeinflusst werden. Das steht im klaren Gegensatz zur allwissenden Perspektive (Link), die uns jegliche Denkarbeit abnimmt.
In Theaterstücken wird diese Form stark eingesetzt, aber auch in dramatischen Texten, die vor allem die einzelnen Figuren sprechen lassen.
Auch in Sachbüchern ist die neutrale Erzählperspektive klassisch weit verbreitet, jedoch nicht die einzige Möglichkeit. Oft wird die neutrale Stimme auch bei historischen Romanen mit realen Figuren verwendet. Aber auch in „ganz normalen“ Romanen und Erzählungen kann die neutrale Stimme eingesetzt werden – wenn man es schafft, auf Bewertungen zu verzichten.
Mein Fazit:
Und genau das ist es, was uns meiner Meinung eher schwerfällt. Denn wir neigen zu Interpretationen – nichts, das wir wahrnehmen ist eindeutig. Wir nehmen alles durch unsere individuellen Filter war – ob das nun die Sinne sind oder Erfahrungen, Werte, Glaubenssätze, Meta-Programme usw. Und genauso geben wir es auch wieder. In der neutralen Perspektive zu schreiben scheint mir somit für die Meisten von uns ein Kraftakt zu sein. Andererseits: Einen Versuch ist es immer wert!
Bücher mit einer neutralen Erzählstimme
Dashiell Hammett: Der Malteser Falke
Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen