Fiumicino Diaries, Teil 4
Opagalli
Der erste Tag ist angebrochen. Nach meinem gestrigen Sturz musste ich feststellen, dass das Fallen früher glimpflicher verlaufen ist. In der Nacht habe ich nach Möglichkeit versucht, die linke Hüfte nicht zu beliegen. In der Früh ist alles halb so wild — in der Nacht fühlt sich bei mir jedes Wimmerl an wie Hautkrebs im Endstadium. Und jeder kleine Schmerz im Arm wie ein ausgewachsener Herzinfarkt. Heute Nacht habe ich überlegt, wie lange man in Italien wohl auf ein künstliches Hüftgelenk wartet — die betroffene Seite wäre noch im Originalzustand, während das Gegenüber ja schon Cyborg ist. Ich feiere heute übrigens mein achtjähriges Hüftgold- äh, Hüfttitan-Jubiläum.
Aber wie gesagt, sobald die Sonne scheint, ist alles wieder gut.
Gleich in der Früh wollten wir zum Strand. Guter Plan, denke ich, während ich unten auf der Straße einzelne tiefengebräunte italienische Pensionisten in der Farbe dunklen Kaffees vorbeiziehen sehe. Vorne am Strand scheint es noch einigermaßen ruhig zu sein.
Nach einem Kaffee und der morgendlichen Toilette ist es halb zehn. Noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen, und wir können los.
Zum öffentlichen Strand. Der Plan ist, kurz die Haxerln reinzustecken und dann einkaufen zu gehen.
Nach noch einem Kaffee, Auspacken, ein bisschen blöd Schauen und Telefonaten nach Hause ist es fast Mittag. Jetzt aber los!
Wir schlurfen die rund 50 Meter zum Strand. „Oida, total überlaufen!“, tönt mein holdes Weib. Ich grinse innerlich. Gegen die Donauinsel oder das Kongressbad an einem halbwegs sonnigen Tag ist das ein Schas. Vielleicht zehn bis zwölf verstreute Menschengruppen, großteils Familien, grillen sich unter Schirmen. Wie in Italien üblich, mit Zimmer, Küche, Kabinett. Eine ebenholzbraune, etwas überwutzelte Dame hat sich dekorativ auf einem umgelegten Baumstamm drapiert, der uns arme Schlucker von den Schnöseln am angrenzenden Bezahlstrand trennt. Der übrigens noch völlig leer ist. An einem heißen Donnerstagmittag im Hochsommer. Bemerkenswert!
Aber wie auch immer …
Wir Weißbrote sind nicht nur anhand unserer Hautfarbe, die bei manchen von uns hell, bei anderen im exquisiten Elon Musk-Weiß gehalten ist, als Rookies identifizierbar. Wir sind auch die einzigen Dodeln mit weißen AirBNB-Badetüchern, von denen wir uns kaum abheben, und ohne Sonnenschirm. Dafür sind wir dick mit 50er-Sonnencreme beschmiert.
Schon vom Balkon waren die heftigen Wellen nicht zu übersehen, die mit voller Wucht gegen die Wellenbrecher klatschen, und als kleiner Adrenalinjunkue hoffe ich, die eine oder andere davon abzubekommen. Aber es gibt nur eine kleine, vielleicht fünf Meter breite Öffnung zum offenen Meer.
Der Rest ist abgetrennt, wie eine riesige Badewanne, in der ein paar Kinder und einige ältere Leute plantschen. Ja, plantschen! Ganz hinten, ungefähr 20 Meter vom Ufer entfernt, steht ein vielleicht fünfjähriges Mädchen im Wasser — bis zum Bauchnabel. Also sehr tief ist es nicht!
An der kleinen Mauer prangt Literatur in schönstem Anfängergraffiti: „Dove c‘e musica c‘e ancora fantasia“ und „In ogni forma che l‘amore libera“, letzteres gefladert von Eros Ramazotti. Aber man weiß ja, dass Kunst zu einem Großteil aus Klauen besteht.
Und dann endlich ist es soweit. Der Moment, auf den ich seit gefühlten Ewigkeiten hinarbeite. Ich gehe ins Meer!
In einer hipperen Gegend hätte ich mich vermutlich nur hinlegen und warten müssen, bis Tierfreunde mich zurück ins Meer befördern. Aber hier nützt es mir nichts, einen auf weißen Wal zu machen, also hüpfe ich neben Moni die paar Schritte durch den heißen Sand ins Wasser, das auch in der Temperatur an eine Badewanne erinnert.
Wir waten und waten, und schon bald stehen wir bis zu den Oberschenkeln im Wasser.
Das Meer! Endlich!
„A bissl dreckig ist es“, meint Moni. Aber das ist nur der durch die vielen Füße aufgewühlte Sand, der sich gleichmäßig verteilt. Kein Grund zur Sorge!
Das sage ich mir auch, als etwas später braune Bröckerl an mir vorüberschwimmen. Aber ganz Wurst ist es mir grad nicht. Das wird doch nicht …? Andererseits würden dann die anderen auch nicht so sorglos da herumschwimmen, oder?
Schließlich ringe ich mich dazu durch, genau hinzuschauen. Und zu greifen.
Und ja, es ist wirklich Seetang. Glaub ich. Hoffe ich.
Etwas beruhigt steuere ich nun den einzigen Spalt im Wellenbrecher an, die Stelle, an der die ohnehin schon gezähmten Naturgewalten sich zumindest in reduzierter Form Bahn brechen dürfen. Wellen! Ich liebe es!
Das beste Hasi von allen versucht, mich unter Kontrolle zu bekommen, aber ich lebe am Limit. Die gut einen halben Meter hohen Sturmfluten zerren an mir, doch ich halte durch. Schließlich erkennt sie, dass sie mich mit diesen Babywellen getrost allein lassen kann und steuert das Ufer an. Ich treibe glücklich und zufrieden auf dem Rücken im brunzwarmen Wasser und freue mich des Lebens. Kontempliere über Himmel, Meer und die 50 shades of blue um mich herum, als es mir plötzlich kalt über die erhitzte Birne läuft und mich ein bissl aushebt. Oha, das war dann wohl doch eine größere Welle, denke ich noch, während ich verbissen versuche, kein Wasser zu schlucken. Man weiß ja nie, ob wirklich alles Braune nur Seetang ist!
Es geht gut, und ich treibe noch eine Weile, bis ich mich wohlig seufzend ans Ufer wurschtle, um hier den Altersschnitt — wenn man die Kinder abzieht — zu halbieren.
Kaum hat mein Hintern seinen Platz im Sand gefunden, werde ich schon angequatscht. Von einem italienischen Schönling in den späten Sechzigern. Er wedelt mit einem Tablett voller Ringe vor meiner Nase herum. „Real silver!“
Oh, so romantisch! Ein Antrag? Von einem heißen Italiener? Und ich darf mir den Ring sogar aussuchen? Dann fällt mir auf, dass er auch Freundschaftsarmbänder hat, kleine Bälle und Souvenirs. Nix Papa-gallo! Opa-Dealer!
Ich winke ab, und nach knapp zehn Minuten gibt er auf und zieht weiter. Gleich darauf der nächste Beau. Mit Badetüchern. Dann kommt einer mit Schwimmreifen. Danke, brauch ich nicht, hab ich eingebaut. Gehört bei meinem Luxuskörper zur Grundausstattung.
„Das macht noch mehr Urlaubsfeeling“, schwärmt Moni. Ich nicke. Nur die asiatische Masseurin fehlt noch, die es normalerweise in jedem Urlaubsort gibt. Die würde definitiv Geschäfte mit mir machen — der Flug und die sechs Monate mega Stress davor sitzen mir in Knochen und Muskeln.
Aber die asiatischen Masseurinnen pfeifen mir was, die dürfte es hier nicht geben.
Also lass ich mich einfach mal kurz umfallen, ignoriere die kommenden 15 braungebrannten Männer, die mir Haus, Hof und Klumpert verscherbeln wollen, und genieße es, mich von der Sonne küssen zu lassen.
Hm. Warm ist es schon ohne Schirm. Das findet offenbar auch das beste aller Eheweiber und murmelt was von „Hot, hot, hot“ Und so hüpfen wir eine knappe Stunde nach unserer Ankunft am öffentlichen Strand wie angesengte Dohlen über den glimmenden Sand zur Strandpromenade und treten den Rückzug an.
Passt perfekt, immerhin sollten wir noch unsere Vorräte aufstocken. Auch, wenn wir nach der gestrigen Völlerei auch jetzt am frühen Nachmittag noch keinen Hunger haben.
Doch der Ausflug in den Supermarkt, das ist eine andere Geschichte.
Lisa Keskin ist
Autorin, BuchMacherin,
Leiterin der Ghostwriting Academy
und Schreibcoach