Oma Frieda und das Vogelhaus
von Thomas Hennig
von Thomas Hennig
„Es wird wohl ein schöner Herbsttag“, denkt sich Oma Frieda, als sie aus dem Küchenfenster ihres Hauses in den Garten schaut. Das Vogelhaus im Feuerdornbusch ist schon gut besucht. Die roten Früchte locken Spatzen, Meisen und Kleiber an. Sie warten. Es sieht aus, als stellten sie sich an, um an die Körner im Futterhaus zu kommen. Während die kleinen Kohlmeisen und Blaumeisen flink durch die Hecke huschen und sich frech vordrängen, sitzen die Amseln im Dornbusch und stibitzen sich zwischenzeitlich ein paar Früchte von den Ästen. Im September und Oktober, wenn der Altweibersommer die Temperaturen noch einmal milde werden lässt, hängt Oma die Vogelhäuschen auf. Dann können die Vögel schon einmal schauen, wo sie im Winter ihr Futter finden. Der Altweibersommer, wenn die Spinnen fliegen lernen. Wenn sie sich an ihren Spinnfäden durch die Lüfte tragen lassen wie kleine Feen. Über den Feldern flirrt die Luft, als würde sie kochen. Es sieht aus wie die der heiße Atem der Wüsten in Afrikas Mittagssonne. Doch es sind nur Spinnfäden, die in der lauen Spätsommerbrise ihren Schleiertanz vollführen.
Heute ist wieder so ein Tag. Oma Frieda ist schon ganz gespannt, denn ihre Enkelin Viktoria kommt zu Besuch. Zusammen mit ihrem Freund. Sie haben ein neues Futterhaus für Omas Garten gebaut, das seinen Platz im Apfelbaum finden soll. Dort ist ein großer Ast, der sich dafür anbietet. Rotes Dach, gelbe Wände und grün umrandete Fenster. Das Dach kann man abnehmen, um Vogelfutter einzufüllen. Die Fenster sind mit durchsichtigem Plastik verklebt, damit das Futter auch drinnen bleibt und nur bei den kleinen Türen, die auf die umlaufende Terrasse führen, herausfällt. Dort können die Vögel dann am Rand sitzen und die Körner aufpicken. Ein schöner farblicher Kontrast zum kargen Astwerk im Winter.
Der Wind frischt leicht auf. Viele Bäume haben ihr sattes Grün schon verloren. Dafür strahlen sie in allen möglichen Braun- und Rottönen um die Wette. Die Hügel hinter Oma Friedas Haus sind jetzt ein Meer aus grünen Nadelwäldern, durchbrochen von rotbraunen Eichen und tiefroten Ahornbäumen. Ein wunderschönes Bild, begleitet von dem leisen Rauschen der Blätter im Wind.
War das jetzt die alte Schiffsglocke? Frieda hat sie von einer ihrer unzähligen Reisen nämlich mitgebracht, und sie dient ihr schon seit vielen, vielen Jahren bei ihrem Gartentor als Klingel. Na ja, Klingel ist vielleicht untertrieben, das Ding hört man auch noch drei Gärten weiter, wenn der Besuch sie richtig anschlägt. Das ist auch gut so, denn früher musste man das Läuten ja auch bei Regen, Sturm und hohen Wellen über das ganze Schiff hinweg hören. „Ah, also doch. Sie sind da.“, denkt sich Oma Frieda, als die Glocke noch einmal erklingt. Da stehen die beiden, Viktoria und ihr Freund, vor dem schmiedeeisernen Gartentor. Das Vogelhaus ist groß! Na, der Apfelbaum wird es schon tragen. Bevor die beiden Jugendlichen das Vogelhaus aufhängen, befüllen sie es noch mit Futter. Getrocknete Beeren, Hirse, Getreide, Sonnenblumenkerne und noch vieles mehr kommt rein. Randvoll, das reicht sicher für eine Woche, vielleicht sogar zwei. Gut, dass der alte Apfelbaum so starke Äste hat. Die Schatten werden länger, aber die letzten Sonnenstrahlen wärmen dennoch noch ein wenig. Ein Genuss! Der Tisch im Garten ist schon gedeckt, und Oma Frieda ist inzwischen im Haus verschwunden.
Das kann eigentlich nur eines bedeuten: Sie hat wieder etwas gebacken. Viktoria hatte schon so einen Verdacht, weil Oma nach Zimt und Zucker geduftet hat. Der Gartentisch steht in einer windstillen Ecke neben dem Haus, gleich unter dem Küchenfenster. Da ist es nicht nur windstill, sondern es riecht auch so gut, wenn das Küchenfenster aufgeht. Heute nach Strudel, nach Apfelstrudel, mit Äpfeln aus dem eigenen Garten. So schmeckt er am besten. Das ist eigentlich auch einer der Gründe, wieso Friedas Enkel und viele ihrer Freunde und Freundinnen gerne bei ihr sind. Es gibt immer Kuchen, Strudel oder Kekse und warmen Tee oder Kakao. Aber fast noch wichtiger sind Friedas Geschichten von früher. Von Afrika zum Beispiel, als sie und ihr Mann, Opa Gustav, mit einer Karawane durch die Wüste reisten. Viktoria ist auch dieses Mal gespannt, welches Abenteuer es wird. „Irgendwann, nach der Schule muss ich auch reisen, wie meine Oma.“, denkt sich Viktoria und schenkt den heißen Kräutertee ein.
Das Vogelhaus schaukelt leicht und sanft vor sich hin. Die Meisen haben es schon für sich entdeckt. Der Apfelstrudel schmeckt wieder traumhaft, und bei einer Geschichte von Oma Frieda genießen sie alle die letzten Sonnenstrahlen des Tages.
Thomas Hennig ist Autor, Ghostwriter und Unternehmensberater.
Wenn er nicht gerade Geschichten über seine Großmutter bzw. Mutter in Personalunion als Oma Frieda schreibt, nimmt er sich gern Themen aus Wirtschaft, Finanz, Politik und der Lebensbetrachtung aus unterschiedlichen Blickwinkeln an.
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Foto: Daniel Willinger | dwphoto.at