Die allwissende Erzählperspektive: Wir sind Alleswisser
Der auktoriale Erzähler beobachtet das Geschehen aus der Kameraperspektive von oben. Er sieht und hört nicht nur alles, er weiß alles, denn er kann in jede Figur hineinsehen. Das heißt, er kennt ihre Gedanken, Gefühle und Motivationen.
Dadurch kann die allwissende Stimme Beziehungen zwischen einzelnen Figuren oder auch Geschehnisse außerhalb des zeitlichen Erzählrahmens – also mit Rückblenden und Vorwegnahmen – thematisieren und so Zusammenhänge herstellen. Manchmal weiß der auktoriale Erzähler sogar mehr als die Figuren selbst, weil er sich an Dinge erinnert, die eine Figur verdrängt oder vergessen hat. Oder eben Dinge vorwegnimmt, die erst geschehen werden.
Ich weiß, ich weiß, was du nicht weißt
Beispiel:
Kontext: Susi ist 13 und geht zur Schule. In ihrer Klasse sind insgesamt 29 Schüler:innen, darunter Richard, der den Spitznamen „Bully“ hatte. Den hat er nicht umsonst, er terrorisiert die ganze Klasse. Und in den Pausen auch die Schüler:innen anderer Klassen.
Susi war ein schüchternes Mädchen, doch an diesem Tag sollte sie ihren Mut finden.
Diese Vorwegnahme – oder auch Spoiler – funktioniert so nur in der allwissenden Perspektive bzw. in der ich-Perspektive, wenn die Geschichte in der Mitvergangenheit, also erzählend und nicht erlebend, geschrieben ist (dazu mehr im Blogartikel Ich-Perspektive: Link). Der erste Teil des Satzes ist eine Charakterisierung von Susi. Diese Charakterisierung funktioniert auch in der personalen Perspektive, in der könnte man aber den folgenden Abschnitt über Richard nicht schreiben:
Wie immer, wenn Richard Susi entdeckte, schubste er sie. Richard hatte sich schon oft vorgenommen, die anderen Kinder nicht mehr zu ärgern. Aber irgendwie passierte es ihm dann doch wieder. Nämlich immer dann, wenn er sich besonders ungeliebt fühlte. Was in der letzten Zeit besonders oft vorkam. Schließlich hatten sich seine Eltern gerade erst getrennt und waren mehr mit sich selbst und der bevorstehenden Scheidung beschäftigt als mit Richard.
Hier wird in eine zweite Figur (zusätzlich zu Susi) hineingeschaut, nämlich in Richard. Während die personale Perspektive sich auf eine Figur konzentriert, kann die allwissende Stimme eben in alle hineinschauen und so einen Rundum- Blick geben. Wir wissen als Leser:innen nun also nicht nur, was in Susi vorgeht, sondern auch, was Richard denkt und fühlt. Außerdem kennen wir den Grund für sein Verhalten.
Susi schaute Richard tief in die Augen und sagte mutig: „Du kannst mir nichts anhaben.“ Was Richard nicht wusste, war, dass Susi sich dachte: ‚Hoffentlich geht das gut!‘ Sie war innerlich zerrissen: Einerseits spürte sie nie gekannten Mut. Andererseits war da diese Angst, die sie bisher davon abgehalten hatte, sich Richard zu stellen.
Die Aussage von Susi ist in allen Perspektiven möglich. Aber nur die allwissende Erzählstimme kann wissen, dass Richard nicht weiß, was Susi sich denkt. Würde man hier in der personalen Perspektive aus Susis Sicht schreiben, würde man zwar wissen, was Susi denkt, aber nicht, dass Richard das nicht weiß.
Wir als Leser:innen bekommen also die volle Dröhnung und müssen uns auch nicht großartig Gedanken machen, weil wir ohnehin alle Einblicke, Hintergründe, Zusammenhänge und sonstigen Punkte auf dem Silbertablett serviert bekommen. Interpretationen, warum jemand etwas macht oder nicht oder auch, wer denn nun wirklich der Täter oder die Täterin sein könnte, können wir sein lassen. Es steht ja ohnehin schon da. Das kann für die Faulen unter uns sehr angenehm sein.
Der allwissende Erzähler: Traum oder Albtraum?
Klingt doch toll, oder? Ja … aber: Das kann total ins Aug gehen. Nämlich dann, wenn du ein Detailmensch bist und ohnehin schon viel zu viel schreibst. Dann verlierst du dich mit der allwissenden Perspektive garantiert in vielen Figuren, unnötigen Details, Nebenschauplätzen und sonstigen Dingen. Und in der Folge verlierst du deinen roten Faden aus den Augen.
Stell dir die Situation zwischen Susi und Richard vor. Wir können – dem allwissenden Erzähler sei Dank – in beide hineinschauen, wissen also nicht nur, was sie sagen und machen, sondern auch, was sie denken und fühlen und warum das so ist. Nun kommen noch weitere Personen ins Spiel. Außenstehende, die die Szene beobachten und sich ihre Gedanken dazu machen. Auch sie haben Gefühle, von denen wir natürlich erfahren. Sie kommentieren das Geschehen, laut oder in Gedanken, und ziehen Parallelen zu sich selbst. Wir erfahren nun auch viel von diesen Außenstehenden und den jeweiligen Hintergründen.
Das ist zwar technisch richtig, weil die allwissende Erzählstimme eben alles weiß und auch alles kommentieren und berichten kann. ABER: Für uns Leser:innen wird diese Szene unlesbar. Wir springen nonstop von einer Person zur anderen, von einem Gespräch zum nächsten Gedanken und dann gleich wieder zu einem Gefühl einer dieser Figuren. Das Wesentliche geht verloren, es herrscht absolutes Chaos, wir wissen sehr schnell nicht mehr, worum es eigentlich geht.
Beispiel:
Susi schaute Richard tief in die Augen und sagte mutig: „Du kannst mir nichts anhaben.“ Was Richard nicht wusste, war, dass Susi sich dachte: ‚Hoffentlich geht das gut!‘ Sie war innerlich zerrissen: Einerseits spürte sie nie gekannten Mut. Andererseits war da diese Angst, die sie bisher davon abgehalten hatte, sich Richard zu stellen.
Während Richard noch überlegte, wie er reagieren sollte, konnte man eine Mädchenstimme hören: „Bravo, Susi!“ Es war die Stimme von Samantha, die mit Susi und Richard in eine Klasse ging. Sie bewunderte Susi dafür, dass sie Richard die Stirn geboten hatte. Samantha war nämlich nicht so mutig. Der Mutige in ihrer Familie war ihr Bruder, Karl, der sogar schon den braunen Gürtel in Karate hatte. Selbst Samanthas Mutter sagte immer wieder zu ihr: „Kind, du musst dich ein bisschen mehr trauen.“ Somit war schon der Ausruf „Bravo, Susi!“ ein Wunder für Samantha, die von niemals Sam genannt werden wollte. Auch andere Kinder hatten die Szene zwischen Susi und Richard beobachtet und stimmten nun in Samanthas Jubelruf mit ein. Peter, der ein oder zwei Klassen über Susi, Samantha und Richard war, beobachtete die Szene ebenfalls und dachte sich: ‚Wird Zeit, dass jemand diesem bösartigen Bully die Stirn bietet.‘
Selbst wenn Samantha und Peter im Laufe der Geschichte noch wichtig werden, sind sie hier in diesem Ausmaß fehl am Platz. Sie lenken von Susi und Richard ab. Es sei denn, das wäre Absicht und die Geschichte von Susi und Richard war bewusst als Einleitung für die Geschichte über Samantha und Peter gedacht. Oder Samantha und Peter sollen von etwas ablenken (Stichwort Red Herring beim Plot Twist). Aber davon gehen wir jetzt mal nicht aus. Als Leser:innen verlieren wir hier leicht den Blick auf das Wesentliche.
Du denkst dir jetzt vielleicht: Klingt mühsam, dann lieber keinen allwissenden Erzähler. Ich persönlich finde den auktorialen Erzähler wunderbar. Wenn man es gut macht. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass du dich nicht dazu verleiten lässt, in die kleinsten (und unwichtigsten) Details abzugleiten, also deinen roten Faden immer im Auge hast. Und auch nicht total ausuferst, weil du alles und jeden charakterisieren und ins Spiel bringen möchtest. Spätestens bei der Überarbeitung solltest du genau schauen, welche Infos deine Leser:innen wirklich brauchen und welche nicht.
Bücher mit einem auktorialen Erzähler
Der auktoriale Erzähler ist übrigens weder mit dem Autor oder der Autorin identisch noch hat er einen Platz in der Geschichte. Er erzählt diese nur. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen: Der allwissende Erzähler kann eine Figur sein, die die Geschichte in der ich-Form (nicht zu verwechseln mit der Ich-Perspektive) erzählt, ist aber dennoch nur Zuschauer. Ein Beispiel dafür ist der Tod im Buch „Die Bücherdiebin“.
Weitere Beispiele aus der Literatur für die allwissende Perspektive:
Patrick Süskind: Das Parfum
Markus Zusak: Die Bücherdiebin (Tod)
Gottfried Keller: Kleider machen Leute
Thomas Mann: Der Zauberberg
Theodor Fontane: Effi Briest
Eine Übersicht über alle Erzählperspektiven findest du hier: Alles eine Frage der Perspektive: die Erzählperspektiven im Überblick