Der Geschmack des Glücks

von C. J. Night

Sydney, Weihnachten 1996

Flackerndes Licht. Dröhnende Bässe. Der Gestank von Schweiß, verschiedenen Parfums und Alkohol vermischte sich mit dem kaum wahrnehmbaren Geruch des Trockeneisnebels aus der Maschine. Bum, bum, bum. Das Dröhnen der Bässe aus den Boxen synchronisierte zum Pochen des Pulses in Carmens Schläfen. Children von Robert Miles, ihr neues Lieblingstechnolied. Wie in Trance bewegten sich ihre Arme und Beine zum Takt der Musik. In einer Selbstverständlichkeit, ohne nachzudenken. Der totale Kontrollverlust, den sie nur beim Tanzen akzeptierte. Nur auf der Tanzfläche fühlte sie sich frei, vollkommen und eins mit der Welt, ohne Zweifel oder Ängste. Nicht nur ihr Körper tanzte, sondern auch ihr Herz und ihre Seele. Ein Unbekannter mit nacktem Oberkörper stupste sie an. Seine Santa-Mütze saß schief auf dem Kopf. Der Bommel daran blinkte in wechselnden Farben. Die Nase des Durchtrainierten glitzerte. In seiner Hand hielt er ein Fläschchen. Carmen winkte ab. Sie brauchte keine Poppers, um sich gut zu fühlen. Sexy Santa grinste, zuckte mit den Achseln, schniefte zweimal am Fläschchen und zwirbelte mit den Fingern das Brusthaar seines Tanzpartners, der ihn sofort an sich drückte und küsste.

Carmen lächelte und schloss die Augen wieder. Eine halbe Stunde hatte sie noch für sich allein, bevor wie sie wieder in einem der Käfige die anderen anheizen würde. Zum letzten Mal an diesem Abend. Sie arbeitete gern als Go-Go Tänzerin. Dabei reiste sie herum, tanzte in den besten Clubs und bei den tollsten Raves rund um den Erdball. Das Studium konnte warten. Jung war sie schließlich nur einmal im Leben.

Die Lackhose klebte an ihren Beinen. Das Top aus Netzstoff, unter dem ihr BH gut sichtbar war, ließ Luft an ihre Haut. Trotzdem schwitzte auch sie, nach dem stundenlangen Tanzen. Zwei Arme schlangen sich plötzlich von hinten um ihre Taille und eine helle Stimme schrie ihr ins Ohr.

»Du tanzt unglaublich und du bist wunderschön!«

Hände mit manikürten Fingernägeln wanderten auf Carmens Bauch, spielten mit ihrem Bauchnabel-Piercing, streichelten sanft um den Nabel. Die Person, die zu den Händen und der Stimme gehörte, drückte ihren Körper von hinten an ihren, bewegte sich mit ihr zusammen zur Musik. Immer noch hielt Carmen ihre Augen geschlossen, gab sich ganz der Musik hin und genoss die Berührungen. Den Atem an ihrem Hals, und danach Lippen, die ihre sensible Haut dort sacht berührten. Die Hände wanderten vom Bauch zu ihren Brüsten. Die Musik wechselte, aber ihre gemeinsamen Bewegungen gingen nahtlos ineinander über, als würden sie seit Jahren miteinander tanzen. Carmen machte eine Vierteldrehung. Haare streiften ihre Nase. Kirsche. In dem Moment legten sich weiche Lippen auf die ihren. Die Augen geschlossen, genoss sie den Geschmack auf ihrer Zunge: Himbeerlipgloss, Vanille und ein bisschen Lebkuchen. Dazu der sinnliche Geruch von Patschuli und Weihrauch. Carmen versank im Kuss und löste sich auf. Es gab nur noch ihre beiden Körper, Lippen und Hände … und das Verlangen. Ein Verlangen, wie sie es nie zuvor gespürt hatte.

»… you got a velvet mouth … you´re so succulent …«, sang Underworld. Oh ja, sie hatten so recht. Ihre Haut prickelte unter Fingerkuppen, in ihrem Schritt pulsierte es. Süßer Schmerz, der nach Erlösung schrie. Blind ließ sich Carmen von der Tanzfläche weg in eine dunkle Ecke führen. Sie gab die Kontrolle ab, wollte nicht sehen, was passierte und mit wem. Nichts als fühlen. Mit dem Körper, dem Herzen und der Seele.

»… come and sugar me …«  Gemeinsam atmeten sie zum Takt der Musik. Haut rieb an Haut. Zähne knabberten an Lippen, Hände streichelten über Rücken. Küsse nach Himbeeren und Lebkuchen. Gott, sie liebte Lebkuchen! Gedanken verpixelten zu einem Vexierbild. Beine umschlangen Beine. Arme hielten einander fest. Finger rieben an Stellen, die vor Sehnsucht nach Berührung schmerzten. Kurz drängten sich Fragen auf: Wie hat sie es in die Hose geschafft? Wie hat sie es in mich geschafft? Sofort wischte sie die Gedanken weg. Gehirnsmog hüllte sie ein. Dann totale Hingabe, völliger Kontrollverlust. „… I´m begging for more …, more, more Oh … sugar now …“. Zu den letzten Takten von C.J. Bolland stöhnte sie auf. Ihr Kopf wurde wunderbar leer. Ihr Körper vollkommen leicht.

Carmen öffnete ihre Augen. Eine Weihnachtselfe lächelte sie an. »Tinkerbell«, entfuhr es Carmen. Das Mädchen lachte, es war ungefähr in ihrem Alter. Ein paar Strähnen ihrer blonden Locken klebten an ihren rotverschwitzten Wangen. Carmens Kontrolle war wieder da. Was hatte sie getan? Sie war doch nicht so! Aber wie konnte etwas, das sich so gut anfühlte, falsch sein? Verlegen verstaute Carmen ihre rechte Brust wieder im Bustier. Die Elfe küsste Carmen auf die Nase, beugte sich vor und vergrub ihr Gesicht in ihrem Haar.

»Merry Christmas«, sagte sie und knabberte an Carmens Ohrläppchen. Carmen versteifte sich. Die Elfe stutzte und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. Ihre Nase kräuselte sich dabei. Süß! Nein, das wollte sie nicht denken. Das war falsch! Carmen schloss die Augen und atmete tief ein, ein Reflex.

Als Carmen die Augen wieder öffnete, konnte sie gerade noch erkennen, wie Tinkerbell die Treppen hinauf lief. Ihr Herz klopfte. Verlustgefühle. Sie hatte einen Fehler gemacht. Carmen versuchte, so schnell wie möglich ebenfalls zum Ausgang zu gelangen. Die Tanzenden rempelten sie verständnislos an. Endlich im Freien, umarmte sie nur die Schwärze der Nacht. Der Mond schien, am Himmel flog eine Sternschnuppe. Tinkerbell war wieder nach Haus geflogen. Und Carmen hatte keine Ahnung, was sie sich wünschen sollte.

***

Fünf Jahre später heiratete Carmen den gleichaltrigen Bernhard, den sie seit der Grundschulzeit kannte und den ihre Eltern als gute Partie sahen, da seine Eltern einen Bauernhof hatten, den er übernehmen sollte. Eine gute Ehefrau hatte ihrem Mann zu folgen – das hatte sie schon als Kind schmerzhaft erfahren müssen – und zu Hause zu bleiben. Eine Frau brauchte keine Karriere. Am Hof gab es ohnehin genug Arbeit. Carmen fügte sich und tat, was man von ihr erwartete. Das Studium und das Tanzen gab sie auf und zog zu Bernhard aufs Land. Dass sie den Sex mit ihm nicht wirklich aufregend fand, verwunderte sie nicht, hatte sie doch schon in mehreren Zeitschriften gelesen, dass es vielen Frauen so ging. Trotzdem bekam sie vier Kinder von ihm. Viele beneideten sie um ihr Leben. Auch ihre Schwester sagte eines Tages: »Carmen, du kannst wirklich stolz und glücklich sein.«

»Was ist Glück?«, fragte Carmen.

Eine ungeheure Sehnsucht nach etwas, das sie nicht beschreiben konnte, umhüllte ihre Seele wie eine dunkle Wolke. Da war diese Leere in ihrem Herzen. Sie wusste nicht, woher sie kam und wie sie dieses Loch füllen sollte. Alles war perfekt, bloß Carmen empfand es nicht so. Jedes Mal zu Weihnachten, wenn sie Lebkuchenteig knetete und der würzige Geruch in ihre Nase stieg, dachte sie an diese Nacht im Club. Sie träumte von Himbeeren und feuchten Küssen, von verschwitzten Leibern auf der Tanzfläche und von dem Mädchen; und je älter sie wurde, umso intensiver wurden diese Träume. In ihren Träumen wartete Tinkerbell vor dem Club auf sie, und gemeinsam wünschten sie sich etwas von der Sternschnuppe. In ihren Träumen gab es viele Bonbonküsse. In ihren Träumen gab es zarte Hände auf feuchter Haut. Nicht diese schwieligen, kratzigen Finger von Bernhard. Wenn sie diese Träume tagsüber auf dem Maisfeld einholten, erschrak sie. Manchmal glaubte Carmen, dass dieses Mädchen eine Illusion gewesen war, nur ein Produkt ihrer vom Alkohol benebelten Fantasie.

***

Als Carmen 38 Jahre alt war, entdeckte sie unter der Dusche zufällig einen Knoten an ihrer Brust. Ihr Leben veränderte sich. Bernhard konnte den Anblick seiner nackten Frau nicht mehr ertragen und vergnügte sich mit einer Ernteaushilfe. Carmen erduldete seine Demütigungen. Dass er keinen Sex mehr mit ihr wollte, belastete sie am wenigsten. Vielmehr kränkte sie sich über die öffentliche Bloßstellung. Sie hatte ihr Leben aufgegeben: ihren Job, ihre Freunde und ihre Hobbys. Im Dorf wurde getuschelt, alle zeigten mit dem Finger auf sie. Auf sie! Als hätte sie etwas Böses getan! Der Leidensdruck wurde irgendwann so groß, dass sie sich eine kleine Wohnung in der Stadt mietete. Die Kinder waren schon fast erwachsen und Bernhard vermisste sie nicht. Ein Jahr später willigte Bernhard in die Scheidung ein und heiratete kurz darauf Carmens Schwester. Als hätte sie – einer Seerose gleich – auf die ersten Sonnenstrahlen gewartet, begann Carmen aufzublühen. Ihre Haare wuchsen wieder nach. Ihre Blutwerte verbesserten sich, ihr Körper wurde stärker. Remission. Sie begann wieder zu arbeiten und besuchte in ihrer Freizeit einen Tanzkurs. Mit ihren alten Freunden ging sie wieder tanzen. Das Leben machte ihr Spaß. Die Sehnsucht blieb …

Wien, Weihnachten 2022

In einem Café beim Naschmarkt wartet Carmen ihre Arbeitskollegin, da kommt sie zur Tür herein. Zuerst hört sie nur dieses klingende Lachen, dann erst sieht sie die Frau, der es gehört. Die Glöckchen an ihrem Elfenkostüm bimmeln. Als die Frau an ihrem Tisch vorübergeht, wabert der Geruch von Patschuli und Vanille zu ihr hinüber. Tief saugt Carmen die Luft ein. Es ist nicht das Mädchen von damals – natürlich nicht! Das wäre ein zu großer Zufall. Mit Tinkerbell hat sie nichts gemeinsam, außer die Gefühle, die sie in Carmen auslöst. In ihrem Bauch flattert es. Sie hört ihr Blut rauschen. Wie in Trance steht sie auf. Allmählich begreift sie – die Lüge, die sie über Jahre hinweg gelebt hat! Ihre Sehnsucht bekommt endlich ein Gesicht.

Lange genug hat sie ihre Bedürfnisse verleugnet. Die Frau geht zur Toilette, Carmen geht ihr nach. Dann steht sie minutenlang vor dem Toilettenspiegel und wartet. Kribbelig. Als die Frau aus der Toilettenkabine kommt, geht Carmen auf sie zu, nimmt ihren Kopf sanft in ihre Hände und küsst sie. Himbeerlipgloss, Vanille und ein Hauch Lebkuchen. Da ist er wieder, dieser unwiderstehliche Geschmack, den sie vor über zwanzig Jahren das erste Mal gekostet hat! Überraschenderweise erwidert die Frau den Kuss.

»Merry Christmas«, keucht Carmen verlegen, als sich ihre Lippen nach Minuten voneinander lösen. »Sorry für den Überfall. Ich wollte nur etwas ausprobieren.« »Und? Konnte ich dir weiterhelfen?« Ein amüsiertes Lächeln umspielt die Lippen der Elfe. Kein Mädchen, eine reife Frau. Grübchen in den Wangen. Schön.

Carmen nickt. Endlich kennt sie ihr wahres Ich. Und sie weiß jetzt auch, was das für ein Geschmack ist, den sie all die Jahre gesucht hat.

Es ist das pure, unverfälschte Glück!

C . J. Night ist ein Pseudonym einer Bestsellerautorin, die unter anderen Autorennamen erfolgreich Romane und Kurzgeschichten in verschiedenen Genres schreibt. Unter C. J. Night werden  Romance und Romantasy Geschichten mit Spice und/oder LGBTQA+ Charakteren erscheinen. Sie liebt es zu reisen, andere Kulturen zu entdecken und lebt gern „aus dem Koffer“. Ihre Wahlheimat ist Sydney, daher spielt diese Stadt auch in der vorliegenden Weihnachtsgeschichte eine Rolle.