Alle Jahre wieder…

von Angelika Oswald

Schon als Kind war Weihnachten etwas ganz Besonderes für mich. Nicht nur wegen der Geschenke, sondern vor allem wegen der besinnlichen Stimmung und der schönen Momente mit der Familie. Jetzt als Erwachsene liebe ich diese besondere Zeit immer noch sehr. Der Unterschied heute ist nur, dass ich irgendwann im Laufe des 24. Dezembers die Nerven verliere und mich für ein paar Minuten verstecken muss, um mir eine kleine Pause von meinen Lieben – meistens am WC – zu gönnen und durchzuatmen. Die ganze Familie auf einem Haufen über so viele Stunden, das ist schon eine Herausforderung. Deswegen freue ich mich oft schon nach der Hälfte des Abends auf das Weihnachten im nächsten Jahr.

Die Tage vor dem Heiligen Abend und das Fest selbst sind einfach immer stressig, obwohl wir einen klaren, vorgegebenen Ablauf haben. Für alles. Es ist immer das absolut gleiche Prozedere:

Spätestens in der letzten Woche vor Weihnachten wird der Christbaum ausgesucht. Er muss bestimmten Kriterien entsprechen. Vor allem muss er Raumhöhe haben. Das bedeutet, wir kaufen jedes Jahr einen 3,80 Meter Baum, um dann festzustellen, dass wir „nur“ eine Raumhöhe von 3,60 Metern haben. Somit muss der ausgesuchte Baum eine nackte Spitze haben, die wir dann auf die gewünschte Länge kürzen können. Möglichst dicht sollte er natürlich auch sein, damit die gefühlt zweitausend Kugeln nicht so verloren aussehen.

Warum? Weil ER es so wollte.

Am 22. Dezember wird der Baum geliefert, denn so einen Riesen können wir nicht selbst tragen. Somit bringen uns der Christbaumverkäufer und seine stärksten Mitarbeiter diesen Baum nach Hause. Das bedeutet, sie müssen ihn durch ein schmales Stiegenhaus in den 2. Stock manövrieren. Jedes Jahr eine starke Leistung, die mit einem Schnaps und extra Trinkgeld belohnt wird. Dann wird der Baum aufgrund des hängenden Fußbodens mit unzähligen Büchern  aufgebockt und zentriert – eine Wissenschaft für sich – und selbstverständlich ausgepackt, damit die langen Äste Zeit haben, sich bis zum nächsten Tag auf ihre volle Länge auszustrecken.

Warum? Weil ER es so wollte.

Am 23.Dezember ist es mir und meinem Bruder vorbehalten, den Christbaum aufzuputzen. Eine Höllenarbeit, die Stunden braucht. Noch dazu darf mein Bruder, der unter starker Höhenangst leidet, auf die hohe Leiter steigen und in drei Metern Höhe freihändig die Kugeln anbringen. Er hasst es! Trotzdem machen wir es jedes Jahr genau so. Ich, diejenige ohne Höhenangst, dirigiere von unten aus und reiche ihm die passenden Kugeln. Süßigkeiten gibt es keine am Baum, aber dafür echte Kerzen. Die unterste Reihe an Ästen wird kaum bis gar nicht geschmückt. Ein Relikt aus der Zeit, als wir noch Katzen hatten, die jede Menge Kugeln spielerisch zerstört haben. Dann wird der Raum verschlossen, denn niemand darf das Meisterwerk sehen, bis es offiziell so weit ist.

Warum? Weil ER es so wollte.

 

Am 24. Dezember trifft sich die ganze Familie um 17:00 Uhr. Alle sind festlich gekleidet. Die Aufregung steigt. Im Hintergrund läuft leise Weihnachtsmusik. Nach einem kleinen Aperitif setzten wir uns an den Tisch und beginnen mit der Vorspeise, die aus Räucherlachs und Meeresfrüchten besteht. Dann kommen als Hauptgang der Karpfen und ein ganz besonderer Salat auf den festlich geschmückten Tisch. Unser „Karlsbader Familien-Salat“. Es ist im Prinzip ein Kartoffelsalat, der aber mit Wurst, Käse, Kapern, Erbsen, Zwiebeln, hartgekochtem Ei, Paprika und jeder Menge Mayonnaise verfeinert ist. Tausende Kalorien auf einem Löffel. Und DAS essen wir zum Fisch! Nachspeise gibt es erst später, denn jetzt ist es zuerst Zeit für die Bescherung.

Warum? Weil ER es so wollte.

Nach einem unauffälligen Zeichen von mir stiehlt sich mein Bruder von der Gesellschaft weg und beginnt heimlich, die Kerzen am Baum anzuzünden. Wenn er damit fertig ist, werden alle Lichter abgedreht und gleich darauf läutet er die Weihnachtsglocke. „Stille Nacht, heilige Nacht“ ertönt – zum Besten gegeben von den Wiener Sängerknaben. Zu diesem Lied habe ich ein gespaltenes Verhältnis. Ich hätte nichts gegen eine weniger verstaubte musikalische Untermalung, aber das sehe leider nur ich so. Und irgendwie passt es ja dann doch ganz gut zur feierlichen Stimmung.

Alle begeben sich ohne ein Wort zu dem noch verschlossenen Raum, in dem der Christbaum steht. Dann werden die Türen geöffnet und alle sehen den hell erleuchteten Baum in seiner vollen Pracht. Ein ganz besonderer Moment. Wir verteilen uns im dunklen Raum und machen nichts anderes, als den Baum zu bewundern und ihn von allen Seiten zu betrachten. Erst wenn das Lied zu Ende ist, wird wieder gesprochen.

Warum? Weil ER es so wollte.

 

Nachdem sich das übliche (aber nicht böse gemeinte) Gemotze über die schlechte Größen- oder Farbverteilung der Kugeln und den nicht so geraden Stamm des wieder einmal viel zu großen Baumes gelegt hat, beginnt der Bescherungswahnsinn. Wir haben jedes Jahr eine Flut an Geschenken. Viele Dinge werden sogar getrennt eingepackt, damit es noch mehr Packerl werden. Allein der Anblick ist überwältigend, geschweige denn die Zeit, die wir zum Auspacken brauchen. Wichtigste Regel: Jeder schaut den anderen beim Auspacken jedes einzelnen Geschenks zu, damit ja auch keine lieb gemeinte Idee übersehen wird.

Warum? Weil ER es so wollte.

Das stundenlange Auspacken hat einen Vorteil. Jetzt hat man wieder Platz für die Nachspeise. Und ein bisschen Alkohol. Wir sitzen dann meistens bis weit nach Mitternacht zusammen, reden über Gott und die Welt und lassen den Abend ausklingen.

Warum? Weil ER es so wollte.

Dieses Jahr ist es das zwanzigste Weihnachten ohne ihn. Und dieses Jahr werden wir alles wieder genauso machen. Wieder der riesige Baum, das gleiche Essen, die Sängerknaben und derselbe Ablauf.

Warum? Weil ICH es so will –  für IHN.

 

 

Angelika Oswald ist Trainerin der Ghostwriting Academy,  Ghostwriter, Autorin und Eventmanagerin.

Du findest sie auf unserer Trainerinnenseite, und bald kannst du mehr über sie nachlesen.