Schoko-Karma

von Ella Scheer

Zwei Wochen vor Weihnachten kaufte Frau Müller eine besonders teure Bonbonniere.  Natürlich nicht für sich selbst – dermaßen kostspielige Süßigkeiten würde sie sich niemals gönnen. Stattdessen überreichte sie die kunstvoll gestaltete Packung ihrer Hausärztin, von der sie sich in diesem Jahr besonders aufmerksam betreut gefühlt hatte.

Die Ärztin verzichtete aus gesundheitlichen Gründen auf Zucker, aber ihr kleiner Sohn brauchte dringend ein Wichtelgeschenk für ein Mädchen aus seiner Klasse. Das Mädchen mochte Kinderschokolade lieber und brachte die Pralinen mit nach Hause, wo sie in die Süßigkeiten-Lade der Familie wanderte.

In der Lade fand sie ihr Vater, der von seiner Frau auf vorweihnachtliche Diät gesetzt worden war. Um des lieben Friedens willen tat er so, als würde er sich daran halten. Aber alles konnte seine Liebste schließlich auch nicht kontrollieren. Er ließ die Packung in seiner Aktentasche verschwinden und ging damit ins Büro.

Dort musste er eine Präsentation für seinen Chef vorbereiten. Allerdings kannte er sich mit der Software noch immer nicht richtig aus und musste seine jüngere Kollegin um Hilfe bitten. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihm aus der Patsche half. Als Dankeschön trat er die Bonbonniere an sie ab.

Die Kollegin schenkte die Schokolade einer Freundin, die gerade Geburtstag hatte. Diese nahm die Gabe mit einem inneren Seufzer entgegen, weil sich ihre Freundin nicht merken konnte, dass sie kein Nougat mochte. Sie brachte die Schachtel ihrer Schneiderin mit, als sie ihr neues Ballkleid abholte.

Die Näherin nahm die Schokolade zu einem Besuch bei ihrer Mutter mit. Die war zwar Diabetikerin, hatte diesen Umstand ihrer Tochter aber bisher erfolgreich verschwiegen. Schließlich wollte sie sich keine Vorschriften von ihr machen lassen.

So spendete sie die Bonbonniere für einen Geschenkkorb an eine Mitbewohnerin im Seniorenheim. Diese mochte lieber Salzgebäck und schenkte die Schokolade-Packung dem Hauswart, der ihr immer heimlich Zigaretten zusteckte.

Der Hauswart war auch kein Süßer und schenkte die Pralinen seiner Erbtante. Diese legte sie mit einer Weihnachtskarte ihrer Nachbarin vor die Tür, die ihr gelegentlich frische Ware vom Bauernmarkt mitbrachte. Dort fand sie Frau Müller und freute sich wie eine Schneekönigin, etwas so Erlesenes geschenkt zu bekommen.

Ella Scheer ist angehende Autorin und Ghostwriter.