Gefunden

von Sonja Warter

Iiiiiihhhhh! Ella fuhr hoch. War das ein Schrei? Sie schaltete das Licht auf ihrem Nachtkästchen ein und blickte auf die Uhr. Es war sechs Uhr morgens. Draußen war stockfinstere Nacht. Hatte sie geträumt? Dann hörte sie eine Art Schluchzen. Ganz leise nur. Es kam vom Haupthaus. Nein, sie träumte nicht. Das war echt. Sie stand auf, zog sich ihren warmen beigen Mantel über, schlüpfte in ihre pelzgefütterten Winterstiefel und stapfte über den verschneiten Pfad zum Haupthaus.

Vorsichtig öffnete sie die Tür. Das Licht brannte. Es roch noch Putzmittel, der Boden war feucht, ein paar Lappen lagen herum. Also war die Reinigungskraft schon da. Und da sah sie sie auch schon. Anni kauerte auf dem Boden, den Rücken an die Wand gelehnt, die Hände vors Gesicht geschlagen, und schluchzte. Ella ging zu ihr hin. „Was ist los, Anni?“, fragte sie. Anni deutete auf den großen dicken Mann mit dem wallenden weißen Bart und der roten Mütze auf dem Kopf, der unbeweglich in einem altmodisch wirkenden Schaukelstuhl saß. „Hallo Herkko“, sagte Ella. Der Mann rührte sich nicht. Ella sah genauer hin. Herkko sah aus, als ob er schliefe. Erst auf den zweiten Blick bemerkte sie ein rotes Rinnsal, das sein ansonsten makelloses weißes Hemd unter der roten Jacke verschmutzte. „Oh Gott! Ist er tot?“ Anni nickte und schluchzte weiter.

Ella brauchte ein paar Momente, um das Gesehene zu verarbeiten. Der Weihnachtsmann war tot! Ok, nicht der Richtige, aber IHR Weihnachtsmann. Herkko, der jeden Tag hunderten Kindern und oft auch deren Eltern ein Strahlen ins Gesicht zauberte, der sie für einen kurzen Moment in eine Märchenwelt mit Rentieren und Elfen eintauchen ließ und ihnen das Gefühl vermittelte, dass alles gut war. Genau dafür pilgerten jährlich hunderttausende Besucher nach Santa Claus Village im finnischen Lappland.

Ellas Gedanken wanderten zurück, zu dem Tag, an dem sie Herkko gefunden hatte. Das war mittlerweile fünf Jahre her. Der alte Weihnachtsmann wollte in Pension gehen und drängte sie schon seit Monaten, einen Ersatz für ihn zu finden. Aber wie suchte man einen Weihnachtsmann? Sie konnte ja schlecht ein Inserat aufsetzen, in dem stand „Suche alten, weißen, übergewichtigen Mann mit Schnapsnase.“ Während sie darüber nachdachte und durch die Straßen von Helsinki schlenderte, stolperte sie fast über einen Obdachlosen, der über einem Luftschacht saß, aus dem warme Luft strömte. Er hatte weißes, verdrecktes Haar und einen ebensolchen Bart. Außerdem eine rote Nase und etwas zu viel Speck um die Mitte. Gewaschen und in die richtige Kleidung gesteckt, wäre er der ideale Weihnachtsmann. Das sah Ella sofort. Die beiden kamen ins Gespräch. Herkko lebte seit mehreren Jahren auf der Straße, nachdem er seinen Job und seine Frau verloren hatte. Er hatte keinen echten Lebenswillen mehr, und er trank. Das machte ihn aber nicht aggressiv, sondern nur noch melancholischer. Ella engagierte ihn vom Fleck weg.

In den nächsten Jahren blühte Herkko auf. In der Gemeinschaft von Santa Claus Village hatte er eine neue Familie gefunden. Und wenn er in seinem weißen Hemd und der roten Jacke, der flauschigen Mütze, den hohen Stiefeln und der grünen Pluderhose in seinem Schaukelstuhl saß und die Kinder zum Strahlen brachte, dann strahlte er mit. In Santa Claus Village war jeden Tag Weihnachten. 365 Tage im Jahr. In Santa Claus Village gingen Wünsche in Erfüllung, so wie der von Herkko nach einer Familie.

In den letzten Tagen hatte er sich nicht ganz wohl gefühlt. Die Jahre auf der Straße hatten schon seit längerem ihre Spuren in seiner Gesundheit hinterlassen. Aber er hatte niemandem etwas gesagt. Gestern Abend war er nach Ende seiner Arbeit noch in seinem Schaukelstuhl sitzen geblieben. Er wolle nachdenken, hatte er den anderen gesagt. Doch er wusste: Es war Zeit, Abschied zu nehmen. Er blickte sich in dem Raum um, der sein zweites Zuhause geworden war. Wände aus hellem Holz, ein Kamin mit knisternder Flamme, rote Säcke mit Geschenken für die Kinder und viele, viele Briefe an den Weihnachtsmann. Er fühlte, dass sein Herz langsam seinen Dienst versagte. Aber das machte nichts. Er war glücklich. Glücklicher als er je gedacht hatte, wieder sein zu können. Bilder mit glänzenden Kinderaugen und lachenden Eltern zogen an seinem inneren Auge vorbei. Für ihn war jeder Tag in den letzten fünf Jahren ein Festtag gewesen. Mit diesem Gedanken schlief er für immer ein.

Ella betrachtete das friedliche Leuchten auf dem Gesicht des alten Mannes. „Danke, Herkko“, flüsterte sie und küsste ihn auf die Stirn. Selbst jetzt hatte er es wieder geschafft. Er hatte sie zum Lächeln gebracht. Ging es nicht darum zu Weihnachten?

Sonja Warter ist angehende Autorin und Ghostwriter.

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