Und es gibt das Christkind doch
von Gabriele Schweickhardt
von Gabriele Schweickhardt
„Gabi, wollen wir einmal horchen, ob das Christkind schon da ist?“
Es war am Vormittag des Heiligen Abends 1958. Ich, damals etwas über dreieinhalb Jahre alt, war in der Küche auf dem Fußboden in das Spielen mit meinem Baukasten vertieft und versuchte gerade einen Turm zu errichten. Als ich aber das Wort Christkind hörte, schaute ich sofort zu meiner Mutter auf. Sie hatte mir ja während der ganzen letzten Wochen mehrere Male erklärt, dass am 24. Dezember das Christkind käme. Wenn ich brav wäre, würde es mir Geschenke bringen und außerdem einen wunderschönen Christbaum, geschmückt mit vielen glitzernden Kugeln und einer Menge Naschsachen. So hatte ich mich redlich bemüht, noch braver zu sein als sonst sowieso schon, damit ich am Heiligen Abend nicht enttäuscht sein würde.
„Wollen wir zum Schlafzimmer gehen und an der Tür horchen, ob das Christkind schon alles vorbereitet?“
Meine Mutter streckte ihre Hand in meine Richtung aus. Schnell stand ich auf, denn ich war inzwischen neugierig geworden und sehr aufgeregt.
Meine Eltern und ich haben in Wien in einem Altbau aus dem Jahr 1906 gewohnt. Das Schlafzimmer war der hinterste Raum der Zwei-Zimmer-Küche-Wohnung. Da es sehr groß war und nicht beheizt wurde, war es schon immer zum Standort des Christbaums auserkoren worden, denn dort hielt er sich lange frisch. Das hatte zwar den Nachteil, dass er nie so richtig Alltagsbestandteil geworden ist, dafür war es jedes Mal etwas Besonderes, wenn wir, auch nach Weihnachten, die Kerzen angezündet haben. Wir sind immer andächtig davorgestanden und haben den Lichterglanz auf uns wirken lassen – nicht so wie heute, wo die elektrischen Kerzen den ganzen Tag brennen und im Grunde von niemandem mehr wahrgenommen werden.
Wir gingen also zur – wie in Altbauten üblich – doppelflügeligen Schlafzimmertür, die jetzt geschlossen war. Ich drückte mein rechtes Ohr fest an die Tür, meine Mutter hinter mir tat es mir gleich – so dachte ich damals zumindest. Da, plötzlich hörte ich von innen ein leises Kratzen.
„War das gerade das Christkind?“, fragte ich meine Mutter aufgeregt und etwas lauter.
„Pssst, du musst schön leise sein, damit uns das Christkind nicht hört, sonst fliegt es gleich davon! Ja, es ist wohl mit einem Flügel an der Tür angekommen.“
Da, an einer anderen Stelle der Tür kratzte es jetzt auch. Dann blieb es eine Weile still. Ich war schon fast etwas enttäuscht, weil ich nichts mehr hörte, da erklang von drinnen leises Glöckchenläuten.
„Mama, was war das jetzt?“ Ich bemühte mich zu flüstern.
„Jetzt hat das Christkind sicher gerade die kleine Glocke aufgehängt, mit der es dann am Abend zur Bescherung läuten wird.“
Mein kleines Herz klopfte mir vor Aufregung bis zum Hals. Unglaublich! Ich hatte sozusagen das Christkind bei der Arbeit erlebt, wenn auch nicht gesehen, so doch klar aus dem Schlafzimmer gehört. Ich wurde auf einmal ganz andächtig.
„Du, Mama, bedeutet das, dass ich vom Christkind doch etwas zu Weihnachten geschenkt bekomme?“
Mit einem vielsagenden Lächeln antwortete meine Mutter: „Das kann ich dir nicht genau sagen, weil ich ja nicht mit dem Christkind sprechen kann, aber ich glaube, deine Chancen stehen ganz gut! Aber komm, wir gehen jetzt wieder in die Küche, nicht dass das Christkind doch noch mitbekommt, dass wir horchen …“
Brav folgte ich ihr und beschäftigte mich wieder meinem Baukasten.
Am Abend nach dem Nachtmahl hörte ich dann plötzlich genau das Glöckchenläuten wie Vormittag, nur jetzt etwas lauter. Die Tür zum Schlafzimmer ging auf und meine Eltern riefen mich hinein.
„Schau, Gabi, das Christkind war da!“ Ein wunderschöner Christbaum glitzerte im Kerzenlicht. Mein Vater zündete noch zwei Wunderkerzen an, und die spritzenden Sterne faszinierten mich.
Unter dem Baum lagen eine Menge Packerln. Das Christkind hatte von unserem Horchen also doch nichts mitbekommen.
***
Viele Jahre später: Längst schmückte ich selbst jedes Jahr unseren Christbaum und musste dabei immer an dieses Erlebnis als Kind denken. Obwohl ich mir immer wieder den Kopf zerbrach, ich kam einfach nicht drauf, wie diese Geräusche damals zustande gekommen waren. Denn eines war klar, das Christkind konnte es nicht gewesen sein. Allerdings: Geschwister hatte ich keine, mein Vater ging am Vormittag des 24. Dezember grundsätzlich auf den Friedhof zum Grab seiner Eltern, meine Mutter war hinter mir gestanden, es konnte also niemand im Schlafzimmer gewesen sein. Eines Tages fragte ich meine Mutter nach der Auflösung dieses Rätsels, das ich einfach nicht knacken konnte.
„Ganz einfach“, antwortete meine Mutter lächelnd, „das Kratzgeräusch habe ich selber gemacht. Du warst ja so aufgeregt und darauf fixiert, dass ein Geräusch nur von drin kommen kann, dass du das nicht gemerkt hast.“
„Aber die Glocke? Die hat ganz sicher drin geläutet.“
„Ja, hat sie auch.“ Ich warf meiner Mutter einen fragenden und ziemlich verständnislosen Blick zu.
„Ich hab einen Zwirnsfaden an die Glocke angebunden, den hab ich an der Seite an der Tür durchgezogen und hängen lassen. Als du dann gehorcht hast, hab ich an dem Zwirnsfaden gezogen und die Glocke am Christbaum hat geläutet. Das Ziehen konntest du nicht mitbekommen, weil ich hinter dir gestanden bin.“
Ich war – und bin es bis heute – unglaublich gerührt darüber, was meine Mutter sich hatte einfallen lassen, um mir als Kind die Gewissheit zu geben: Und es gibt das Christkind doch!
Gabriele Schweickhardt ist Lektorin und Ghostwriter. Bald wirst du mehr über sie erfahren.