Weihnachten mit alles
von Elo Blau
von Elo Blau
„Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.“ Damit verstummte die brüchige, hohe Stimme des schmächtigen Geistlichen. Ich hoffte inständig, die gebückte Gestalt möge den eisigen Windböen standhalten. Ein paar Spritzer Weihwasser und ein Schauferl Erde später trat er zur Seite und deutete mir, an die Grube heranzutreten, um mit einer letzten Rose Adieu zu sagen, bevor die Pompfüneberer ihres tiefschürfenden Amtes walteten.
Es war im November 2020. Ich war gerade mal juvenile 43 und Neo-Vollwaise. Mitten im Lockdown, der mir in diesem Fall äußerst willkommen war – immerhin hielt er mir die maskierten Kondolierenden vom Leib. Bussi-Bussi fiel damit ebenso aus wie ein etwaiger Leichenschmaus. Schade aber auch! Wie gerne hätte ich für Tante Mitzi & Co Frittatensuppe und paniertes Allerlei gesponsert, um mich dabei darüber aufklären zu lassen, „dass er’s dort, wo er jetzt ist, besser hat“. Bei derlei inbrünstig vorgetragenen Floskeln drängte sich mir stets die Frage nach Erfahrungsberichten auf. Und die war für mich ungefähr genauso einfach runterzuschlucken wie ein Salonbeuschel für einen Vegetarier. Gut also, dass dieser Kelch an mir vorüberzog.
Mit der anbrechenden Adventzeit kam ich trotz latenter Melancholie ganz gut zurecht. Das Grab meiner Eltern hatte ich geschmackvoll geschmückt und machte mich allsonntäglich auf zum Friedhof, um ein weiteres Kerzerl auf dem Adventkranz anzuzünden.
Weihnachten rückte unweigerlich näher. Ein eiliger Abend würde es in diesem Jahr wohl nicht werden. Mit dem Alleinsein per se hatte ich noch nie Probleme, ganz im Gegenteil. Wobei – so ganz stimmt das nicht, denn die Gesellschaft meines vierbeinigen Gefährten wusste ich sehr zu schätzen. Dennoch konnte ich ein gewisses Unbehagen nicht abstreiten. Es war schon die letzten Jahre hart, seitdem ich Mama viel zu früh an den Krebs verloren hatte. Doch nun, ohne Papa, war es das erste Mal so ganz ohne Eltern. Ohne Eltern. Ohne Baum. Ohne Fest. Ohne alles.
Was mir ziemlich den Nerv zog, waren die gut gemeinten Vorschläge aus dem Freundeskreis. Manch einer lud mich zur Familienfeier ein, was original das Letzte war, wonach mir der Sinn stand. Eine happy Family mit ein bis fünf potenziell Covid-Infizierten vorm „schenen Baam“ und die bemitleidenswerte Spontanverwaiste, die sich bei der Fresserei bestimmt bei irgendwem zum millionsten Mal dafür rechtfertigen muss, warum sie kein Fleisch isst, obwohl’s das Bio-Kalberl in seinen drei Lebensmonaten doch eh gut gehabt hat. Danke, aber nein danke! Familie wär schön gewesen, aber wenn, dann meine. Und die war nun mal united down under in Stammersdorf Zentral.
Eine Freundin versuchte mich krampfhaft davon zu überzeugen, es wäre eine ur super Ablenkung, wenn ich mir spontan einen Typen aus dem Internet aufreiß‘, denn dort gäbe es bestimmt Leute, die auch noch keine Pläne für die Holy Night hätten. Doch erstens wollte ich mich gar nicht ablenken, sondern mit meinen Gedanken ganz bewusst bei meinen Eltern sein. Und zweitens hatte ich weder Lust auf einen notstandigen Santa mit prall gefülltem Sack, noch auf ein Flenntier, also einen Raunzer, der mir illuminiert den Abend mit einer Litanei über seine Exen der letzten 25 Jahre verdunkelt. Ergo: kein Bedarf, dass ein Tinderlein komme.
Als ich mich dann auch noch mit beleidigten Vorwürfen konfrontiert sah, mir nicht helfen lassen zu wollen, worum ich wohlgemerkt nie gebeten hatte, machte ich endgültig dicht. Für mich stand fest, den Weihnachtstag definitiv alleine verbringen zu wollen.
Der 24. Dezember war gekommen und ganz plötzlich wusste ich, was zu tun war – typisch in letzter Minute. Ich kaufte ein kleines Bäumchen beim Tannen-Dealer meines Vertrauens und packte ein wenig bunten Christbaumschmuck, Kerzen und einen Sitzpolster ein, außerdem ein kleines Tupper mit ein paar Vanillekipferln und eine Thermosflasche mit Weihnachtstee – so, wie Mama ihn früher immer gemacht hat: Bratapfel-Zimt mit Honig. Und Taschentücher – für den Notfall. Im Eskimo-Look begab ich mich auf den Friedhof.
Es war zwar nicht eisig, doch der Wind war grauslich und es war feucht. Ich arrangierte das Tännchen mittig auf dem Grab, etwa einen halben Meter vor dem Stein, und begann mit klammen Fingern, es zu schmücken. Ich dachte an die wunderschönen Christbäume meiner Mama und die von meinem Lieblings-Opa, die mich in meiner Kindheit jedes Jahr aufs Neue so fasziniert hatten. An jene Zeiten, als ich dann schon beim Aufputzen mithelfen durfte und immer mit Mama die Kugeln vorsortiert hab, sodass die schönen nach vorne kommen und die nicht so tollen nach hinten. Das Dilemma dabei: Die waren alle schön und der Baum ist jedes Mal ein bisserl gekippt, weil vorne viel zu viel draufhing und hinten zu wenig. Dann mussten wir den alten dunkelgrünen Keramik-Ständer immer vorne mit ein paar Donauland-Lexika aufpackeln. Die waren sehr praktisch, weil nicht zu groß und nicht zu dick. Fürs Feintuning musste die eine oder andere Schallplatte herhalten, was Papa natürlich nicht sehen durfte. Aber Tannen-Styling war nicht sein Ding, daher war keine Gefahr gegeben. Sobald der letzte Lamettafaden justiert war, durfte man das kunstvoll gestaltete Nadelgehölz nicht mehr berühren, bis zum Abräumen. Und es empfahl sich, die Packerln mit einem gewissen Sicherheitsabstand zu platzieren.
Schmunzelnd in Erinnerungen schwelgend und „Oh du fröhliche“ summend band ich noch einen kleinen Silberstern auf den Wipfel und betrachtete zufrieden das hübsche Bäumchen. Dann zündete ich noch ein Kerzerl an und stellte es in die kleine Laterne aus Messing, links vor dem Grabstein. Mir war wohlig warm. Entgegen der Befürchtungen ob meiner Gefühlslage ging es mir überraschend gut. Ich spürte so eine intensive Verbindung zu meinen Eltern, dass es direkt kribbelte. Es fühlte sich nicht so an, als wären sie in ihren Eichen-Einzimmerappartements ein paar Meter unter mir, auch wenn es hier schwarz auf weiß geschrieben stand. Naja – eigentlich in Blattgold auf rotem Marmor. Jedenfalls empfand ich es, als wären sie unmittelbar bei mir. Als würden sie mich umarmen.
Ich nahm mein Polsterl und setzte mich auf die Umrandung des gegenüberliegenden Grabs. Dann packte ich die Thermosflasche und die Vanillekipferln aus. Der Tee tat gut. Ich rauchte mir eine an und sinnierte lange vor mich hin. Plötzlich heulte ich los wie ein Schlosshund. War also doch die richtige Eingebung, drei Packerln Tempo einzustecken. Ich war zerrissen. Denn so unfassbar es war, dass Mama und Papa physisch nicht mehr da waren, so unglaublich schön war es, sie derartig spüren zu dürfen. Der Heulkrampf kam bestimmt nicht zufällig in diesem Moment, denn es war das erste Mal seit einer Ewigkeit, in dem ich mich so richtig geborgen fühlte und endlich vieles loslassen konnte.
Als ich mich wieder gefangen hatte, stellte sich eine ungemeine Erleichterung ein. Die Energie meiner Eltern blieb. Als es dann fast schon stockfinster war, packte ich meine Siebensachen, schickte noch ein paar Bussis in den Himmel und machte mich auf den Heimweg.
Und so hatte ich doch noch ein richtiges Weihnachten. Mit meinen Eltern. Mit Baum. Mit Fest. Mit alles. Denn es war das schönste Fest, das ich daraus machen konnte und ich war sehr stolz auf mich, dass ich das geschafft hatte.
Elo Blau ist Ghostwriterin und Autorin.