Stille Nacht, Heilige Nacht

von Christine Auer

Heiligabend.

Stöhnend balanciert Ella einen Stapel Geschenke ins Wohnzimmer. Ihr Mann Daniel und die Kinder sind schon den ganzen Tag unterwegs, damit Ella in Ruhe Weihnachtszauber verbreiten kann. Seufzend gießt sie sich ein Glas Eierlikör ein und betrachtet die To-Do-Liste in ihrer Hand. Wann hat ihr Leben diese Wendung genommen? Wann ist aus der spontanen, chaotischen Ella, dieses durchorganisierte, strukturierte, alles-im-Griff-habende Wesen geworden?

Sie lässt den Blick über das Chaos im Wohnzimmer schweifen. Weihnachtspapier, Kartons, Geschenke, Schere, Klebestreifen, Kräuselbänder, Christbaumschmuck. Alles liegt wild durcheinander. Leise lacht sie auf. Zumindest das Chaos bekommt sie noch hin.

Das Schrillen der Türklingel lässt sie zusammenzucken. Wer kann das sein? Ausgerechnet zu Heiligabend? Sie stellt das Glas ab und öffnet die Tür. Der Gestank von faulen Eiern schlägt ihr entgegen. Ella hält den Atem an. Eine blutleere Fratze starrt sie mit funkelnden Augen an. Hinter den aufgesprungenen Lippen blitzen messerscharfe Zähne auf. Das Gesicht – wenn man es so nennen will – ist umrahmt von wilden Zotteln und zwei gedrehte Hörner stehen vom Kopf ab.

„Oh mein Gott!“ Ellas Stimme zittert.

„Nein, nein. Krampus oder Knecht Ruprecht, wenn’s recht ist. Sogar mit Beelzebub könnte ich leben. Aber Gott … das wäre dann doch zu anmaßend.“

Mit einem lauten „Scheiße“ schlägt Ella die Tür zu. Sie stürzt in die Küche und lugt aus dem Fenster. Doch vor der Eingangstür steht nur der blinkende Plastik-Schneemann, den Oma und Opa letztes Jahr den Kindern geschenkt haben. Jetzt habe ich schon Halluzinationen! Ella wirft der halbleeren Flasche Eierlikör einen verächtlichen Blick zu und geht zurück ins Wohnzimmer.

Endlich setzt sie den letzten Haken auf ihre To-Do-Liste. Kleine Engel und Schneeflocken glitzern in geschickt arrangierten Moos-Gräser-Sternen auf dem Esstisch. Sogar den potthässlichen Weihnachtsschmuck von Oma Heidi hat sie auf den Christbaum gehängt. Wehmütig denkt sie an die Schachtel mit Rolling-Stones-Kugeln und bunten Plastikeinhörnern, die sie im hintersten Winkel des Abstellraums noch immer aufbewahrt. Ein lautes Klopfen reißt sie aus ihren Überlegungen. Sie schließt die Wohnzimmertür und eilt zum Eingang.

„He, kannst du nicht aufpassen?“ Blonde Locken schwingen herum. Eine halb-gerauchte Zigarre schwankt bedenklich im Mundwinkel der kleinen Gestalt, die vor ihr auf dem Boden sitzt. Ella stockt. Sind das Flügel, die da aus dem feinen Stoff am Rücken ragen? Eine mürrische Stimme sagt: „Starr mich nicht so an, ein Engel zu Weihnachten ist doch echt nicht ungewöhnlich, oder? Klar, ich weiß, was du jetzt denkst. Gabriel, der Erzengel in meinem bescheidenen Haus … blablabla.“ Eine Rauchwolke landet in Ellas Gesicht. Gabriel hält eine leere Flasche Eierlikör in die Luft. „Also, Liebes, wir brauchen noch mehr davon.“

Ella deutet stumm auf den Platz im Vorgarten, wo sie den frisch gemachten Likör am Vormittag zum Auskühlen in den Schnee gestellt hat. Gabriel schüttelt den Kopf. „Die Flaschen sind schon alle leer. Mein Freund war fleißig.“ Erst jetzt bemerkt Ella, den Krampus von vorhin, der im Schnee sitzt. Auf jedem seiner gedrehten Hörner baumelt eine leere Likörflasche.

Plötzlich ertönt ein lautes Pfeifen und Quietschen über ihnen. Ein heller Lichtstreifen zischt über den Himmel und mit einem Knall geradewegs in die große Tanne vor dem Haus. Als ein Rentier zwischen den Tannenzweigen hervorlugt, lehnt sich Ella seufzend an die Hausmauer. Rentiere! Fehlt nur noch der Weihnachtsmann!

In diesem Augenblick taucht ein riesiges Hinterteil zwischen den Ästen auf und klettert schnaufend nach unten. „Dancer, Dasher, Prancer, Vixen, Comet, Cupid, Donner, Blitz kommt. Rudolph leuchtet euch den Weg hinunter.“

Als der rotgekleidete, weißbärtige Mann vor Ella steht und fröhlich „Hallöchen, ich bin der Weihnachtsmann“ sagt, beginnt sie hysterisch zu lachen. „Ja, klar. Gabriel und der andere sind auch schon da.“ Aus dem Augenwinkel sieht sie den Engel und seinen betrunkenen Freund im Haus verschwinden. Panisch eilt Ella hinterher und findet sie in der Küche, schmatzend über das vorbereitete Weihnachtsessen gebeugt.

Klirr! Das kam aus dem Wohnzimmer.

Der Christbaum!

Ella sprintet los. Moos und Gräser sind vom Wohnzimmertisch verschwunden. Stattdessen ziehen sich lange Spuckefäden quer über den Tisch. Zufrieden kauend liegen die Rentiere auf dem Teppich und der Weihnachtsmann ist gerade dabei den Christbaum umzudekorieren. Oma Heidis Weihnachtsschmuck liegt in einer Schachtel auf dem Fußboden, dafür funkeln Einhörner und Rolling-Stones-Kugeln auf dem Baum um die Wette. Als Krönung prangt an der Christbaumspitze – anstelle von Omas Kitsch-Engel –  ein muskelbepackter Adonis-Engel aus feinstem Glas, dessen Six-Pack jeden Bodybuilder neidisch machen würde. Glücklich dreht sich der Weihnachtsmann zu Ella um. „Schön, oder? Gibt’s Prosecco?“

Ella zuckt mit den Schultern. „Ich hole uns etwas zum Anstoßen.“

Als es erneut an der Tür klingelt, sitzen Ella, Gabriel, der Weihnachtsmann und der Krampus im Wohnzimmer und spielen Scharade. „Ich bin gleich wieder da!“, ruft Ella und wankt zur Haustür. Helles Licht blendet sie. „Hallo Ella! Ich bin das Christkind.“

„Natürlich, du hast noch gefehlt. Komm doch herein.“

„Nein, danke. Wir sind spät dran. Gabriel und die anderen hätten längst bei unserer Weihnachtsfeier sein sollen. Sie sind wohl irgendwo falsch abgebogen. Das Essen haben sie schon verpasst, aber nun wird die Karaoke-Maschine angeworfen. Und es ist einfach kein richtiges Weihnachten, ohne dem Last Christmas-Duett von Gabriel und Knecht Ruprecht.“

Kurze Zeit später – nach einem tränenreichen Abschied und dem Versprechen bald wieder etwas gemeinsam zu unternehmen – klingelt es abermals. Als Ella summend die Tür öffnet, starrt ihre Familie sie verwirrt an. Verlegen schiebt sich Ella die Mütze des Weihnachtsmannes aus den Augen. „Kommt herein!“, nuschelt sie. Sie beugt sich zu den Kindern und flüstert: „Das Christkind war schon da.“

Als sie gemeinsam das Weihnachtszimmer betreten, hört Ella, wie Oma und Opa geräuschvoll die Luft anhalten. Daniel zieht seine Frau an sich und küsst sie lachend auf die Nasenspitze. „Ich liebe dich!“ Inzwischen inspizieren die Kinder begeistert die Krippe, in der nun auch Starwarsfiguren und sogar Harry Potter stehen. Entsetzt wandert Opas Blick zur Christbaumspitze. „Ella! Was soll denn das? Los Heidi, wir gehen.“ Doch Oma Heidi, die sich soeben aufs Sofa gesetzt hat, sagt mit einem Blick auf ihren alten Christbaumschmuck: „Diese alten Sachen kann ich eh schon längst nicht mehr sehen.“ Sie setzt ihre Brille auf und mustert mit hochgezogener Augenbraue den Adonis-Engel. „Friedrich, hab‘ dich nicht so. Das ist doch alles sehr hübsch und stimmungsvoll.“

In diesem Moment erhellt ein Lichtstrahl das Fenster und der Schlitten des Weihnachtsmannes fliegt vorbei. Fröhlich winken die vier Insassen Ella zu. Das Letzte, was zu hören ist, bevor der Schlitten verschwindet, ist die Stimme des Weihnachtsmannes: „Himmelhergottnochmal, Gabriel hör‘ endlich auf zu fluchen! Du hättest das Navi auch mitnehmen können. Das Christkind gibt sich wirklich Mühe die Karte zu lesen. Wir kommen schon noch rechtzeitig zur großen Polonaise.“

Christine Auer ist Autorin und Trainerin.

Mehr zu ihr findest du hier: www.christineauer.at

Foto © Martin Ludl