Tödliche Liebe

von Barbara Miklosch

Missmutig und so gar nicht in Weihnachtsstimmung schlendert Lou mit ihren Freundinnen über den Wiener Christkindlmarkt. Seit ihre Mom vor sieben Jahren, genau eine Woche vor Weihnachten, starb, hasst sie dieses Fest abgrundtief.

Andererseits nutzt sie jede Gelegenheit, um nach Wien zu kommen und ihre Freunde zu treffen. Leo, ihr Vater, musste ja unbedingt vor zwei Jahren zu seiner „Freundin“ ziehen. Dass diese am Arsch der Welt in einem Kaff lebt, hat ihn dabei nicht die Bohne gestört. Mitterbach am Erlaufsee. Satte zwei Stunden Autofahrt von Wien entfernt. Auch Lous Wunsch, in Wien zu bleiben, war dem Tyrannen sichtlich egal gewesen.

Während Lou wieder einmal ins Grübeln versinkt, sehen sich ihre Freundinnen begeistert das Angebot der Weihnachtsmarktstände an.  Sie kaufen ein wie die Wahnsinnigen und bei jedem Stand entfährt ihnen ein „Ohh, sieh mal!“ oder ein „OMG, wie cute ist das denn bitte?“ Dabei werden ihre Stimmen um mindestens drei Oktaven höher.

Lou verdreht bei jedem Satz in dieser quietschend grellen Stimmlage die Augen und drängt die Girls subtil zum nächsten Punschstand. Immerhin möchte sie sich mit ihnen unterhalten und erfahren, was sich in den letzten Wochen in ihrem gemeinsamen Freundeskreis getan hat. Außerdem kann so ein Turbopunsch nicht schaden, vielleicht erhellt sich ihre Stimmung dann etwas.

Während sie um den Punsch anstehen, vibriert Lous Handy. „Keinen Bock ranzugehen“, denkt sie sich und bestellt, endlich an der Reihe, ihren Turbopunsch. Und einen Jägermeister, den sie flink in ihren Punsch kippt, bevor sie sich zu ihrer Truppe gesellt. Was hat sie diese gackernden Hühner vermisst! Ohne sie ist das Gym nicht dasselbe. In ihrer neuen Schule wimmelt es nur so von hochgestochenen und eingebildeten Ungustln. Im Billroth-Gymnasium dagegen waren die Menschen total locker und gechillt drauf. Mit ihnen konnte man Spaß haben und trotzdem über alle Themen der Welt philosophieren. Lou vermisst ihre alte Schule, sogar die Lehrer.

Wieder vibriert Lous Telefon in der Hosentasche. Sie holt es widerwillig heraus und steckt es ohne abzuheben gleich wieder ein. Leo, der kann mich mal. Sie trinkt mit ihren Freundinnen noch zwei weitere Tassen Punsch und merkt, wie der Alkohol langsam wirkt. Jetzt gefallen ihr sogar die handgemachten Christbaumkugeln am letzten Stand gegenüber des Burgtheaters. „Kommst du noch mit zu mir?“, fragt Lous Freundin Tina. „Nein, heute nicht, ich fahre noch zur Pauli-Oma. Hab sie seit der blöden Verlobungsfeier von Leo und Alina nicht gesehen. Wir sehen uns in den Weihnachtsferien!“

Nachdenklich macht sich Lou auf den Weg zu ihrer Oma. Eigentlich heißt Oma ja Anna, aber sie hatte, als Lou noch klein war, einen Kater namens Pauli. Seither ist sie die Pauli-Oma. Lou liebt ihre Oma über alles. Immerhin ist sie die einzige Oma, die sie je gehabt hat. Die Eltern ihrer Mom und der Vater von Leo sind schon vor ihrer Geburt gestorben. Und die Pauli-Oma liebt Lou – als einziges Enkelkind ist sie quasi ihr Heiligtum. Sogar heute mit ihren 17 Jahren wird sie von Oma nach Strich und Faden verwöhnt. Es gibt keinen Besuch, nach dem Lou nicht mit vollgeschlagenem Bauch und ein paar Euro mehr in der Tasche nach Hause fährt.

Zuhause … das ist für Lou immer noch die Wohnung im 19. Wiener Gemeindebezirk. Eine Maisonettewohnung in der Nähe des Beethovenparks. Glücklicherweise hat Leo die Wohnung für Besuche in Wien behalten. Bald wird sie Lou gehören, wenn sie endlich 18 ist und die Matura hinter sich hat. Studieren wird Lou in Wien und einen Nebenjob hat sie sich auch schon gesichert, um die Wohnung erhalten zu können. Nur noch ein paar Monate, dann ist sie frei. Frei von ihrem Vater, frei von ihrer baldigen Stiefmutter und frei von diesem 500-Seelenkaff in Niederösterreich.

Als erstes werden alle Sachen von Leo und Alina rausfliegen, und dann wird sie die Sachen ihrer Mom aus dem Keller holen. Sie wird ihr Zimmer im Obergeschoss behalten und Moms Habseligkeiten im Schlafzimmer platzieren. Lou weiß schon genau, wie alles aussehen wird.

In fünf Minuten ist sie bei Oma und sie hat das Gefühl, schon jetzt die guten Weihnachtskekse riechen zu können, die immer um diese Jahreszeit für sie bereitstehen. Lou freut sich am meisten auf die Vanillekipferl. Die sind einfach himmlisch! Pauli-Oma ist halt auch die beste Bäckerin aller Zeiten.

Wieder vibriert ihr Handy und Lou hat endgültig die Schnauze voll. Sie kickt den Anruf weg und dreht das Telefon ab. Nicht mal einen Tag lang kann man seine Ruhe haben.

Als Pauli-Oma ihr die Türe öffnet, erschrickt Lou förmlich. Oma hat geweint und wirkt ziemlich aufgelöst. „Kind, wo warst du denn? Dein Vater war eben hier, weil er dich nicht erreicht und auf der Suche nach dir ist“, ruft die weißhaarige Frau aufgeregt. Ihre faltige Haut sieht noch fahler aus als sonst und ihr Gesicht hat jegliche Farbe verloren. Lou versteht die Welt nicht mehr. Was soll schon so Dramatisches passiert sein? Oma drängt sie wieder bei der Türe hinaus und schnappt sich im Rausgehen ihre Handtasche. „Wir machen uns gleich auf den Weg zu deinem Vater. Er ist wieder zurückgefahren, um auf dich zu warten.“

Während der Fahrt schluchzt Oma ein paar Mal so heftig, dass ihr ganzer Körper zittert. Doch es ist kein Wort aus ihr rauszubringen. Lou weiß immer noch nicht, was passiert ist, und warum Oma sich so aufregt. Immer wieder tätschelt sie Lous Schenkel und murmelt etwas wie „Alles wird wieder gut mein Kind!“ Die letzten Meter müssen die beiden zu Fuß zurücklegen, doch Lou erkennt schon von weitem die Polizeiautos vor dem Wohnhaus. Vor ihrem Zuhause. Was zu Hölle ist hier los?  Mit jedem Meter, den die beiden dem Tumult näherkommen, drückt Pauli-Oma Lous Hand fester.

Dem Mädchen wird bei dem Anblick der vielen Polizisten flau im Magen, jeder weitere Schritt fällt ihr schwer. Im nächsten Moment kreuzen sich die Blicke von Lou und ihrem Vater. Da stimmt etwas ganz und gar nicht. Leo stürmt zu seiner Tochter und nimmt sie schluchzend in den Arm. „Gott sei Dank bist du wohlauf.“ seufzt er sichtlich erleichtert. Aha, keine Standpauke, weil er mich nicht erreicht hat? „Du kannst dir nicht vorstellen welche Sorgen ich mir um dich gemacht habe. Ich dachte schon, du wurdest entführt.“ „Entführt? Was redest du, Leo? Ich habe dir doch gestern Abend gesagt, dass ich mit den Mädels auf den Christkindlmarkt gehe. Was ist denn hier los zur Hölle? Die ganze Polizei, weil ich nicht abgehoben habe? Findest du nicht, du übertreibst ein wenig?“ Ihr Vater schüttelt heftig den Kopf, doch bevor er antworten kann, mischt sich ein übellauniger, dickbäuchiger Polizist ein. Er hat keine Uniform an und weist sich als Oberinspektor Jäger aus. Kriminalpolizei. „Sie sind also Lou Marxreiter, die abgängige Tochter?“ fragt er und bei jedem Wort wackelt sein sauber zusammengedrehter Schnauzer. Hätte er nur so viele Haare auf dem Kopf wie im Gesicht.

„Ja ich bin Lou, aber ich bin nicht abgängig. Ich war doch nur auf dem Christkindlmarkt und habe mein Handy nicht gehört.“ „Gut, dann muss ich Sie fragen, wo Sie heute zwischen 11:00 und 13:00 Uhr waren.“ „Warum ist das wichtig? Ich bin doch wieder hier.“ „Lou, bitte beantworte die Fragen des Herrn Oberinspektor. Das ist wirklich wichtig.“ mischt sich Pauli-Oma in das Gespräch.

„Ich war zu Hause und gegen 12:00 Uhr bin ich in den Beethovenpark gegangen. Um 13:00 Uhr habe ich mich mit meinen Freundinnen getroffen. Warum ist das wichtig, verdammt noch einmal?“ „Lou, du sollst doch nicht fluchen!“, ruft Oma. Gleichzeitig setzt der Jäger an: „War jemand in der Wohnung, bevor Sie gegangen sind? Und waren Sie allein im Park?“ „Ja sicher, Alina war da und im Park war ich allein.“ „Das heißt, Alina ging es gut, als Sie gegangen sind? Kann jemand bezeugen, dass Sie im Park waren? Ist  Ihnen ein Nachbar begegnet? Oder jemand anderer, der uns das bestätigen kann?“

Jetzt wird es Lou zu bunt: „Natürlich ging es ihr gut, als ich ging. Was soll das für eine bescheuerte Frage sein? Und nein, im Park habe ich niemanden getroffen, den ich kenne. Sagt mir jetzt bitte mal einer, was hier los ist?“ „Lou, Schätzchen, Alina, sie … sie ist die Treppen runtergestürzt. Sie … sie ist tot.“ schluchzt Leo, bevor ihm der Speckbauch ins Wort fällt. „Nun, wir können derzeit noch kein Fremdverschulden ausschließen, Herr Marxreiter. Wir ermitteln noch und ich möchte Sie bitten, uns unsere Arbeit machen zu lassen. Ich muss Lou zur Vernehmung auf das Revier mitnehmen. Im Moment sieht es danach aus, als ob sie die Letzte war, die Ihre Verlobte lebend gesehen hat. Und nachdem ihre Tochter noch nicht volljährig ist, muss ich Sie beide bitten mitzukommen.“

Lou hat dem Oberinspektor gar nicht mehr zugehört. Wie versteinert steht sie da. Tot? Die wollen mich doch verarschen. Heute Morgen haben wir uns doch noch wegen der Verlobungsfeier gefetzt. Sie kann nicht tot sein. Das Mädchen fühlt sich, als ob sich der Boden in eine wabernde Masse verwandeln und sie jeglichen Halt verlieren würde. Plötzlich hört sie den Bärtigen sagen: „Also Lou, Herr Marxreiter bitte kommen Sie mit mir mit. Wir müssen auch noch einen Alkoholtest machen. Ich meine, eine Fahne bei Ihrer Tochter zu riechen. Alles weitere werden wir auf dem Revier klären.“

Das ist doch nur ein schlechter Traum. Auf die ungläubige Fragerei ihres Vaters geht sie erst gar nicht ein. Sie verabschiedet sich von Pauli-Oma und trottet wie ferngesteuert hinter dem Polizisten her, der ihr nun die Autotür aufhält. Nach einer kurzen Fahrt sind sie auf dem Stützpunkt, und der Jäger führt die beiden direkt in den Vernehmungsraum. Er bringt ihnen etwas zu trinken und lässt mit einem lauten Knall die dicke Mappe aus seiner Hand auf den Tisch knallen. Lou zuckt zusammen und stiert den Polizisten böse an.

Stundenlang wird Lou von Herrn Jäger in die Mangel genommen. Immer wieder fragt er sie nach dem Streit heute Morgen. Leo hat ihm davon erzählt und Lou kann nicht einschätzen, ob ihr Vater es tatsächlich für möglich hält, dass sie etwas mit dem Tod von Alina zu tun hat. „Nun fragen Sie mich das schon zum hundertsten Mal, ja wir hatten heute Morgen Streit, weil ich von Alinas und Leos Verlobungsfeier einfach abgehauen bin. Ja, ich war nicht begeistert davon, dass diese Frau meine Stiefmutter werden sollte. Aber als ich ging, war alles in Ordnung. Sie hat mir sogar noch aus dem Fenster nachgekeift. Dafür wird es doch bestimmt Zeugen geben! Außerdem verstehe ich nicht warum ich hier verhört und verdächtigt werde, wenn es doch ein Unfall war?“

Der Herr Oberinspektor ignoriert ihre Frage und verlässt schweigend den Raum. Diese Zeit nutzt Leo, um seiner Tochter Löcher in den Bauch zu fragen. Fragen, auf die Lou keine Antworten hat. Also macht sie es wie der Jäger und schweigt. Die Stunden vergehen, und es ist weit nach Mitternacht, als Lou aufgrund fehlender Beweise aus dem Verhör entlassen wird. Sie hört nur mit halbem Ohr zu, als der Dickbäuchige ihrem Vater erklärt, dass eine Zeugin ihre Aussage bestätigt und man nun tatsächlich von einem Unfall ausgeht. Wie es aussieht, ist Alina beim Hinabsteigen der Treppen gestolpert und mit dem Kopf auf dem Marmorboden gelandet. Wahrscheinlich hat sie sich so über unseren Zoff aufgeregt, dass sie nicht geschaut hat, wo sie hintritt. Also bin ich eigentlich trotzdem schuld an ihrem Tod. Niedergeschlagen und völlig fertig kommt Lou bei ihrer Pauli-Oma an. Leo ist ins Hotel gegangen. Er meinte nur, er würde Lou morgen Mittag abholen. In diesem Moment hatte Lou enormes Mitleid mit ihrem Vater, er war tottraurig und machte einen hilflosen Eindruck. Zwei Frauen zu verlieren, das wünsche ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind. Armer Papa.

Pauli-Oma ist noch wach und schließt ihre Enkelin sofort in die Arme, nachdem diese die Wohnung betreten hat. Das Mädchen erzählt ihr von dem Verhör und ihren Gedanken. Und wie Omas so sind, stellt sie Lou während des Redens einen Teller voller Kekse vor die Nase. Tröstend streichelt sie ihren Arm, und da die beiden nach einer Zeit wirklich erschöpft sind, gehen sie ins Bett. Schlafen wird Lou höchstwahrscheinlich nicht gut, aber wenigstens kann sie sich ein bisschen ausruhen. Bevor sie in ihr Schlafzimmer verschwindet, kommt Oma noch mal zu dem Mädchen. Sie setzt sich neben Lou auf das Bett und streichelt ihr sanft über den Kopf, so wie sie es schon vor vielen Jahren getan hatte. Anders als Lou es erwartet hätte, nickt sie recht rasch unter den Zärtlichkeiten ihrer Oma ein. Als das Mädchen schon tief schläft, sieht Pauli-Oma sie mit zärtlichem Blick an. „Ich musste es tun, mein Schatz. Für dich und deinen Vater. Um nichts in der Welt konnte ich zulassen, dass dein Vater sie heiratet. Noch einmal durfte das einfach nicht passieren. Es war schwer genug, deiner Mutter regelmäßig in kleinen Dosen das Gift zu verabreichen, das sie langsam, aber sicher sterbenskrank machte. Diesmal musste es schneller gehen. Denn jetzt kommt ihr wieder zurück zu mir und wir sind wieder eine glückliche Familie. So wie es immer schon sein sollte. Für dich würde ich doch alles tun, mein Schätzchen!“

Worte, die im Dunkel der Nacht verhallten und nie von jemandem gehört wurden.

Barbara Miklosch ist Trainerin der Ghostwriting Academy, Autorin, Mentaltrainerin und Ghostwriter.

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