Weihnachten 2.0

von Monika Lexa

Katharina saß vor dem Haupthaus und bereitete das Abendessen vor. Die Kaninchen hatte sie enthäutet und auf Äste gesteckt und nun briet sie die mageren Körper über dem Feuer. Obwohl es kurz vor Sonnenuntergang war, war es noch immer sehr warm. Die wenigen Bäume boten aufgrund der fehlenden Blätter keinen Schutz vor der Sonne. Glücklicherweise hatten die Sammler vor einiger Zeit Stoffe und Decken gefunden. Einige dieser Stoffe dienten nun als Sonnensegel.

Katharina seufzte. Wie gerne wäre sie wieder mit den Sammlern unterwegs. Die erlebten Abenteuer und fanden die tollsten Dinge. Klar, es war nicht ungefährlich. Aber spannend. Gegen Abenteuer mit den Jägern hätte sie auch nichts gehabt. Hauptsache unterwegs sein. Stattdessen war sie dazu verdammt, sich um Haushalt und Kochen zu kümmern. Und sie sah jeden Tag das Gleiche: die Häuser, die Pfahlwände, das große Tor, die knorrigen Bäume ohne Blätter. Wenn sie doch nur einmal noch einen dieser großen, saftig-grünen Bäume mit den Nadeln hätte sehen können!

Katharina seufzte erneut und erhob sich. Die Kaninchen konnten einige Zeit allein vor sich hinbraten. Sie nahm ihre Krücken und schwang sich damit und auf ihrem gesunden Bein – ihrem einzigen Bein – Richtung Tor. Die Sammler würden bald nach Hause kommen und sie konnte es nicht erwarten, ihre Schätze zu sehen. Wenigstens das war ihr geblieben.

Katharina war noch nicht beim Tor angekommen, als Thomas vom Turm herunterrief: „Sie kommen, öffnet das Tor!“

Katharina sah Markus herbeieilen und verfluchte erneut ihr fehlendes Bein. Sie konnte ihm nicht einmal helfen, den schweren Baumstamm zu entfernen, damit sich das Tor öffnen konnte. Sie schwang sich elegant mit ihren Krücken zurück zu den Kaninchen und drehte sie über dem Feuer, sodass sie gleichmäßig gebraten wurden. Die Kaninchen waren zwar mager – auch für sie gab es nicht mehr allzu viel zu fressen –, aber immerhin gab es sie noch. Wie einige andere Arten hatten sie es geschafft, sich an die neuen Lebensbedingungen anzupassen. Dann setzte sich Katharina auf den großen Baumstumpf neben dem Feuer und wartete gespannt auf die Sammler und das, was sie gefunden hatten.

Emilia zog gemeinsam mit Georg den Karren, auf dem sie den Großteil der gefundenen Schätze platziert hatten, durch das Tor. Sie war gerne Sammlerin, sie liebte das Abenteuer und freute sich auf jede Möglichkeit, die Welt zu erkunden. Genauso sehr freute sie sich jedes Mal, wenn sie nach Hause kam. Und wieder ein Abenteuer er- und überlebt hatte.

Emilia sah Katharina beim Feuer sitzen und spürte dieses seltsame Gefühl im Magen, eine Mischung aus Freude und Anspannung. Ob sie es wohl jemals schaffen würde, Katharina ihre Gefühle zu gestehen? Seit Katharina ihr Bein verloren hatte, war sie abweisend. Nicht nur ihr gegenüber. Es war, als ob sie jedes freundliche Wort und jede lieb gemeinte Geste falsch verstand. Ja, vielleicht sogar missverstehen wollte. „Das machst du doch nur, weil ich ein Krüppel bin!“ und „Das sagst du nur, weil ich mein Bein verloren habe!“ waren ihre Reaktionen.

Emilia, Georg und die anderen Sammler begannen, den Karren zu entladen und auch ihre Rucksäcke zu leeren. Für sie war es zum Ritual geworden, die Schätze nach jeder erfolgreichen Suche am Platz vor dem Haupthaus aufzulegen oder zu stapeln. So konnten alle gemeinsam entscheiden, was wie und wo verwendet würde.

Emilia wollte aber an diesem Tag ihren Rucksack nicht leeren. Denn sie hatte etwas Besonderes gefunden. Eine bunte Solar-Lichterkette, von der sie nicht wusste, ob sie überhaupt noch funktionierte. Das würde sie erst sehen, wenn es dunkel war. Außerdem hatte sie eine Box mit Karten gefunden. Offenbar hatte es in der alten Welt ein Fest gegeben, zu dem sich die Menschen gegenseitig beschenkten. „Das Fest der Liebe“, hatte Emilia auf einer der Karten gelesen.

Es war bereits dunkel, als Emilia und Katharina als einzige beim Feuer saßen. Alle anderen waren schon zu Bett gegangen. Emilias Herz klopfte bis zum Hals. „Heute oder nie!“, dachte sie sich. Sie stand auf und holte die Lichterkette, um sie über den kleinen Baum neben dem Feuer zu hängen. Als sie sich zu Katharina umdrehte, sah sie, dass diese aufgestanden war und nach ihren Krücken griff.

„Warte!“, rief Emilia. „Bitte!“

Katharina sah sie erstaunt an und ihr Staunen wurde noch größer, als Emilia die Lichterkette einschaltete. Die kleinen Lichter leuchteten in allen Farben – gelb, grün, rot, blau, rosa, lila. Wie ein Regenbogen.

Noch bevor Katharina etwas sagen konnte, sagte Emilia: „Die Kette habe ich heute gefunden. Ich weiß nicht wieso, aber ich habe sofort an dich gedacht. Und ich habe noch etwas gefunden.“ Sie griff in ihren Rucksack und holte eine kleine Schatulle heraus.

Katharina hatte sich inzwischen wieder hingesetzt und Emilia setzte sich neben sie. „In der alten Welt gab es ein Fest, zu dem sich die Menschen gegenseitig beschenkt haben. Ich möchte diese Tradition fortführen und daher habe ich dir das hier mitgebracht.“

Katharina sah sie mit einem Blick an, den Emilia nicht deuten konnte. Erstaunt? Verärgert? Missbilligend? Neugierig? Unsicher? Katharina selbst wusste nicht, wie sie sich fühlen sollte. Ihr Herz klopfte und in ihrem Magen tanzten die Schmetterlinge Tango. Sie wusste schon lange, dass sie in Emilia verliebt war. Aber was sollte diese schöne, kluge und starke Frau von einem Krüppel wie ihr wollen?

Die Neugier siegte und Katharina öffnete die Schatulle. Darin fand sie eine Kette mit einem Anhänger, der aussah wie einer dieser großen Bäume mit den Nadeln, die sie so liebte. Als sie wieder zu Emilia sah, lächelte diese sie an. „Das Fest, das ich erwähnt habe, war das Fest der Liebe. Frohe Weihnachten, Katharina!“

Monika Lexa ist Lehrgangsleiterin des Ghostwriterlehrgangs, Mentaltrainerin, Fachtrainerin und hat sich auf Autor:innen spezialisiert, die sich mit dem eigenen Buch noch nicht so recht raustrauen.

Mehr zu ihr findest du unter monikalexa.com.

Foto: Rossart Fotografie