Rudolph, das geyle Rentier
von Conny Strumberger-Sellner
von Conny Strumberger-Sellner
„Wenn mich heute noch irgendein Idiot anrempelt oder blöd anschaut, zeige ich denen, was ich vom Weihnachtsfrieden halte!“ Katja umklammert den Griff ihrer vollgestopften Tasche und stapft wütend durch die Menschenmenge in der Einkaufsstraße. Von oben fallen dicke Schneeflocken – eine davon direkt in ihr Auge. Für einen kurzen Moment sieht sie alles nur noch verschwommen. Mit hochrotem Kopf bleibt sie stehen und versucht, die fetten Tropfen aus ihrem Gesicht zu wischen. „In den letzten Jahren hatte es zu Weihnachten 20 Grad, und wenn ich die verdammten Weihnachtseinkäufe erledigen muss, schneit es, als wären wir am Nordpol. Wollt ihr mich eigentlich verarschen?“ Ups, hat sie das etwa gerade laut gesagt? Sieht ganz so aus, denn ein älteres Ehepaar bleibt abrupt vor Katja stehen und der Mann schüttelt verächtlich mit dem Kopf. „Frohe Weihnachten … wird eh euer letztes sein!“ Diesmal hat Katja darauf geachtet, dass sie den Gedanken nicht laut ausspricht. Obwohl … was soll schon passieren? Eine kleine Schlägerei mit Pensionisten wäre das i-Tüpfelchen dieses harmonischen Shoppingtrips.
Auf ihrem Weg zur U-Bahn beruhigt sich Katja langsam und sie versucht sogar, die bunten Lichter und den Geruch von Maroni und Zuckerwatte, der von den Ständen am Straßenrand in ihre Nase weht, zu genießen. Aber es gelingt ihr einfach nicht. Wie gern würde sie sich auf Weihnachten freuen. So wie früher, als sie es nicht erwarten konnte, dass die Glocke im Wohnzimmer läutete, und sie wusste, das Christkind war da. Jedes Jahr aufs Neue lieferte sie sich mit ihrem Bruder ein Rennen Richtung Christbaum das meistens mitten im Türrahmen endete und nicht selten dazu führte, dass einer von beiden weinend vor der festlich geschmückten Tanne stand, während die Eltern andächtig „Stille Nacht“ trällerten. Kurz muss Katja schmunzeln. Nur ganz kurz, denn im nächsten Moment kommt sie in den Genuss einer Alkoholfahne Marke billiger Weißwein aus dem Tetrapack. Die Quelle des Wohlgeruchs, ein offensichtlich obdachloser Mann mit fettigen Haaren und einem riesigen Loch in der Hose, baut sich wankend vor ihr auf und bittet sie lallend um Kleingeld. „Für etwas zu essen.“ Katja dreht sich angewidert weg und sucht schnell das Weite. „Gut, dass Wodka aus Kartoffeln besteht, dann kann man es als Essen tarnen.“ Katja schmunzelt über ihren eigenen Witz. Auf ihren Sarkasmus ist auch zwei Tage vor Weihnachten Verlass. Den braucht sie auch, als sie in die müffelnde und stickige U-Bahn einsteigt. Um sie herum lauter gutgelaunte Menschen. Einige davon bewaffnet mit Tassen von diversen Christkindlmärkten. „Lieber würde ich barfuß durch Scherben von kitschigen Weihnachtstassen laufen, bevor ich mir diesen grottigen Christkindlmarkt-Schwachsinn gebe.“
Katja atmet laut hörbar aus. So laut, dass ein Kerl mit fettem Strickpullover, auf den ein dümmlich dreinschauendes Rentier mit leuchtend roter Nase gestickt ist, sich zu ihr dreht und meint: „Schau an. Ein Weihnachtsblues-Opfer!“ Katja braucht einen kurzen Moment, um zu begreifen, dass damit sie gemeint ist. Doch sie wäre nicht sie, hätte sie nicht die entsprechende Antwort auf Lager. „Kann ja nicht jeder so aussehen, als hätte ihn der Weihnachtsmann persönlich ausgekotzt.“ Der junge Mann sieht ihr direkt in die Augen und Katja rechnet schon damit, dass sie die Beinahe-Schlägerei mit den Pensionisten jetzt in der U-Bahn austrägt. Doch genau das Gegenteil passiert. Der Rentier-Fan beginnt lauthals zu lachen und klopft Katja dabei anerkennend auf die Schulter. „1:0 für dich. Ich schau wirklich selten dämlich aus. Aber so ist das, wenn der Chef bekennender Weihnachtsjunkie ist und man versucht, sich mittels Strickware einzuschleimen.“ Die Meldung bringt wiederum Katja zum Schmunzeln. „Bevor ich mir so was anziehe, kündige ich lieber.“ „Auch eine Möglichkeit. Vielleicht im nächsten Jahr.“ „Schau an, er ist schlagfertig. Und würde er modisch nicht gerade ein Wimmelbild aus Wolle tragen, wäre er irgendwie sogar süß.“
„Echt? Du findest mich süß? Das freut Rudolph und mich aber.“ Katja schaut ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Hat sie das etwa schon wieder laut gesagt? Dreht sie jetzt langsam durch? Das müssen die vielen Duftkerzen sein, an denen sie vorhin geschnüffelt hat. „Bilde dir nur nichts drauf ein. Mit so einem Pulli ist jeder sexy.“ Etwas unbeholfen versucht Katja, ihren Fauxpas auszubügeln. „Fuck! Das war meine Station! Jetzt muss ich wieder zurückfahren. So ein Dreck!“ Nein, diesmal ist nicht Katja die mit dem nicht-weihnachtlichen Wortschatz, sondern vielmehr der junge Mann, der genervt zur Tür geht und mit voller Wucht auf den roten Knopf eindrischt. Katja muss grinsen. Mit seinem überdimensionalen Rentierpullover kann sie seinen Wutausbruch nicht ernst nehmen. Noch bevor sie sich genau überlegen kann, was sie da tut, hört sie sich in der nächsten Sekunde selbst sagen: „Hast du Lust auf einen Glühwein bei mir zu Hause?“ Katja tippt direkt auf Rudolphs rote Nase, als sie die Einladung an den Fremden ausspricht. Wenn sie schon mies gelaunt ist, kann sie das auch gemeinsam mit jemand anderem sein. Blitzartig ist die Wut aus seinem Gesicht verschwunden und der hübsche Kerl lächelt. „Ich wusste ja, dass du sehen willst, was unter dem Pullover steckt.“ „Von wegen! Ich bestehe darauf, dass du den Pulli anlässt, wenn du es mir besorgst.“
Kurze Zeit später liegen die beiden eng umschlungen und verschwitzt im Bett. „Darf ich jetzt endlich den verdammten Pullover ausziehen? Ich komm darin noch um.“ Stefan stöhnt laut. Wie schon die ganzen zwei Stunden davor. „Ausnahmsweise. Aber nur, wenn du mir noch mindestens zweimal zeigst, was der liebe Weihnachtsmann Schönes für mich hat.“
Wozu auf Weihnachten warten, wenn man die Bescherung schon zwei Tage früher haben kann …?
Conny Strumberger-Sellner ist Editorin, Ghostwriter und Autorin. Außerdem ist sie Trainerin der Ghostwriting Academy sowie Chefredakteurin der DBZ.