Jo, das fleißige Engelchen
von Hanna Fiedler
von Hanna Fiedler
Es war einmal, vor gar nicht allzu langer Zeit, als im Himmel, dort wo das Christkind wohnt und sich auf den Heiligen Abend vorbereitet, das jährliche „Engelchendanke“ begann.
Einmal im Jahr, kurz vor Weihnachten, ruft Petrus jenes Engelchen zu sich, das im vergangenen Jahr am meisten mitgeholfen hat. Dieses Engelchen darf im nächsten Jahr auf die Erde hinunter und auch einige Zeit dortbleiben.
Dann schaut Petrus gemeinsam mit ihm nach, welche Plätze auf der Welt gerade frei sind. Danach hat das Engelchen drei Tage Zeit, um sich zu überlegen, welchen Platz es einnehmen will. In diesem Jahr war Jo das fleißigste Engelchen. Also ließ Petrus sie holen.
Jo war sehr aufgeregt. Seit vielen Jahren arbeitete sie auf diese Gelegenheit hin. Wie oft hatte sie schon davon geträumt und jetzt sollte es endlich soweit sein!
Es stellte sich heraus, dass in diesem Jahr zwei verschiedene Plätze zur Auswahl standen, die unterschiedlicher gar nicht hätten sein können. Da gab es einen Platz hoch oben im Norden der Erdkugel, mitten im ewigen Eis. Dort war der Platz eines Eisbären frei geworden.
Ein Eisbär ist ein sehr großes und starkes Tier. Es lebt allein. Es braucht niemanden. Der Eisbär mag auch niemanden um sich herum haben. Immer wenn ein anderes Tier seinen Weg kreuzt, verscheucht er es und kümmert sich am liebsten nur um sich selbst. Er fängt so viele Fische, wie er mag, und wenn er müde ist, legt er sich einfach in die Sonne und schläft. Wenn er wollte, könnte er auch der hungrigen Robbe einen Fisch abgeben. Aber, so meint er: „Die kann sich doch auch um sich selbst kümmern! Wenn sich jeder um sich selbst kümmern würde, dann hätte niemand ein Problem!“
Der andere Platz, der für Jo zur Auswahl stand, war der einer Ameise. Sie lebte unter Hunderten Artgenossen mitten in einem Ameisenhügel. Die Ameise war klein, nichts Besonderes, und eine von vielen, die dort lebten. Man musste schon ganz genau schauen, um sie überhaupt zu erkennen. So viele kleine Ameisen wuselten in dem Ameisenhaufen herum. Jo hatte den Eindruck, dass alle ununterbrochen am Arbeiten waren. Manche liefen mit einem Stück des Honigtropfens, den sie gerade gefunden hatten, zu ihrem Bau, verschwanden drinnen und kamen kurz darauf wieder heraus, um ganz schnell wieder zum Honigtropfen zu laufen. Andere trugen riesige Blätter oder kleine Ästchen in Richtung Ameisenhügel, und wieder andere trugen gemeinsam größere Dinge in den Bau. Einige dieser Lasten waren viel schwerer als die Ameisen selbst.
„Also Jo, von diesen beiden freien Plätzen kannst du dir nun einen aussuchen. Hast du schon eine Ahnung, welchen du magst?“, fragte Petrus. Das Engelchen schüttelte den Kopf. Auf den ersten Blick wirkte es so, als hätte die Ameise viel zu viel zu tun und gar keine Zeit, sich um sich selbst zu kümmern. Außerdem gab es in dem Ameisenbau so viele Ameisen, dass Jo sich gar nicht vorstellen konnte, noch Platz im Bau zu haben.
Daher schien es ihm gut möglich, dass es trotz der furchtbaren Kälte im Norden der Erdkugel angenehmer sein würde, ein Eisbär zu sein. Da waren nicht so viele andere Eisbären und Jo könnte in Ruhe sein Leben genießen. Aber…
„Darf ich mir noch ein wenig Zeit lassen? Ich würde so gerne noch darüber nachdenken und die beiden Plätze ein wenig aus der Ferne beobachten, bevor ich mich entscheide.“ Der kleine Engel Jo bemerkte, dass er am liebsten dem Eisbären beim Herumspazieren, beim Fische fangen und beim in der Sonne liegen beobachtete. Das Glitzern des Schnees sah fast so aus wie die Sterne am Himmel in der Nacht. Das weiße Fell des Bären unterschied sich kaum von der Schneeschicht. Deshalb musste man den Eisbären immer lange suchen. „Was man kaum sehen kann, kann man auch nicht so schnell finden“, dachte das Jo. Und es überlegte, dass sie dann auch von niemandem belästigen werden könnte. Man würde sie ja nicht finden. Mit einem Schmunzeln schlief das Engelchen an diesem Abend ein.
Am nächsten Morgen fand sie die Ameisen lachend und kreischend vor. Sie waren gerade dabei, die Einteilung für den Tag zu machen. „Dabei war es ja gar nicht nötig, das zu tun“, dachte sich Jo. „Die machen doch sowieso immer das Gleiche!“ Und damit hatte das Engelchen eigentlich recht. Eigentlich. Jede Ameise hatte immer die gleiche Aufgabe, außer irgendwo fiel eine aus, oder eine war krank, oder einsam, oder traurig, oder… egal, was eine der Ameisen brauchte, es war immer eine andere da und unterstützte sie. Die Ameisen waren nämlich davon überzeugt, dass es dem ganzen Ameisenvolk nur dann gut gehen konnte, wenn es jeder einzelnen Ameise im Haufen so gut wie möglich ging. „Wenn wir uns alle im Kreis aufstellen und jede auf die Ameise links von sich achtet, dann ist für jede Ameise gesorgt“, war ihre Devise. „Aha“, dachte sich das fleißige Engelchen. „In einem Ameisenbau gibt es ganz viele Nachbarn und Freunde. Man ist nie allein und hat immer jemanden in der Nähe, der helfen kann.“ Jo fand die Vorstellung sehr schön und schlief auch an diesem Abend lächelnd ein.
Am dritten Morgen hatte das Engelchen noch immer nicht die geringste Ahnung, für welchen der beiden Plätze es sich entscheiden sollte. Und so entschloss es sich, heute einfach beim Eisbären und bei den Ameisen vorbeizufliegen und sie zu beobachten.
Die Waldameisen gingen, wie schon die letzten beiden Tage, einfach ihrer Arbeit nach, plauderten, lachten und scherzten zwischendurch. Manchmal erzählten sie auch von einer Kollegin, die sich den Fuß verstaucht hatte, und der die Königin persönlich Ruhe verordnet hatte. Der verletzten Ameise war sogar von einer Wächterin der Fuß mit Gräsern verbunden worden und sie bekam einen besonderen Honigtrank, damit sie schnell wieder gesund würde.
Zur gleichen Zeit stapfte der Eisbär allein, langsam und gemächlich im ewigen Eis dahin. Er musste mit keiner Tierseele reden oder lachen. Alle ließen ihm seinen Frieden. Und auch er musste sich um niemanden kümmern. Er sah, wie ein kleiner Eisvogel, der beim Fischen noch nicht sehr geschickt war, mit dem Schnabel im Eis stecken blieb, grinste kurz und wandte sich dann wieder der Weite zu. Er dachte gar nicht daran, zu helfen. Im hohen Norden muss man sich als gestandener Eisbär um sich selbst kümmern. Dafür ist man auch allein und groß und stark. Während der weiße Bär so vor sich hin trottete, bemerkte er gar nicht, dass unter ihm bei jedem Schritt ein seltsames Knistern und Krachen zu hören war. Durch das Gewicht des weißen Riesen begann das Eis zu brechen und bald darauf gab es einfach nach, sodass der große Eisbär ins Wasser plumpste. Das Engelchen hatte aus den Augenwinkeln beobachtet, dass drei junge Robben gespannt gewartet hatten, was passieren würde. Sie lachten und warteten ab, bis der Bär plumpste. Sie schlossen sogar Wetten ab, wer am besten den Zeitpunkt des Plumpsens erriet.
Das Engelchen fragte die jungen Robben, warum sie den Eisbären denn nicht gewarnt hätten. Daraufhin lachten die drei: „Du kannst uns doch nicht zwingen, etwas zu tun, das wir nicht tun müssen! Wir haben das Recht, einfach zuzusehen – der hätte auf sich selbst aufpassen sollen, dann wäre ihm auch nichts passiert!“ Ob Jo wirklich so leben wollte, wusste sie nicht genau, also flatterte sie noch einmal zu den Ameisen.
Dort war gerade ein Waldtier mit seinen riesigen Pfoten in den Ameisenbau getrampelt. Der Schaden war so groß, dass die wenigen kleinen Tierchen, die für die Bauarbeiten abgestellt waren, die Reparaturen gar nicht bewältigen konnten. Außerdem waren einige der Ameisen in den zusammengefallenen Gängen gefangen und konnten sich nicht allein befreien. Doch sofort kamen viele Ameisen aus anderen Bereichen zu Hilfe und gemeinsam befreiten sie die eingeschlossenen Ameisen, stellten den Bau wieder auf, lachten und scherzten und gingen schließlich wieder zurück an ihre eigene Arbeit. Fröhlich, weil das Lachen der kleinen Tierchen ansteckend wirkte, fragte Jo nach, warum die anderen Ameisen denn immer alle so schnell zu Hilfe kämen und was sie dazu brächte, das zu tun.
Da meinten die Ameisen: „Das geht doch gar nicht anders. Nur gemeinsam sind wir schnell und stark. Man muss doch zusammenhalten, wenn man etwas erreichen will. Oder hast du eine andere Idee, wie das gehen soll?“ Nein, die hatte Jo nicht.
Aber das Engelchen wusste nun, welchen Platz in der Welt es einnehmen wollte. Auch wenn der glitzernde Schnee sehr verführerisch war und ein großer Eisbär mehr hermachte. Eine kleine Ameise zu sein, die viele Freunde hat, in einer Gesellschaft, in der sich alle umeinander kümmern und sich gegenseitig helfen, das gefiel dem kleinen Engelchen einfach viel besser.
Jo wusste, dass man auf sich und zugleich auch auf andere achten kann. Und so wollte das Engelchen von nun an leben.
Schon am Weihnachtsabend kam daher im Ameisenbau eine klitzekleine Jo zur Welt und alle Ameisen freuten sich über ein weiteres Mitglied ihrer Gemeinschaft.
Hanna Fiedler, geboren 22.7.1960 war bis 1994 in verschiedenen kaufmännischen Berufen unzufrieden. Schließlich entschied sie sich zu einer vierjährigen Ausbildung zur Dipl. Lebensberaterin. Diesen Beruf übt Hanna Fiedler nun seit 1999 selbstständig und erfolgreich aus.
Bereits erschienene Bücher:
„Unser Leben zu dritt – er, die Demenz und ich“
„Tinchen und andere Lebensmärchen“
„Gut, dass der Zug NICHT kam“
Foto: Miriam Mehlmann