Weihnachten, Digga
Kerstin Renner
Kerstin Renner
Als Uropa Leopold und Opa Klaus durch die Tür treten, duftet es weder nach selbstgebackenen Keksen, noch nach Geselchtem oder Tannenzweigen. „Haben wir uns vielleicht im Tag geirrt? Nein, heute ist der 24. Dezember, Heiliger Abend“, geht es Leopold durch den Kopf. Als erstes huscht ihnen Pascal, der 16jährige Sohn des Hauses, ins Blickfeld.
„Yo Digga“, begrüßt er sie und hält ihnen seine rechte Faust hin.
Leopold ist sowohl verwundert als auch irritiert und umklammert die Faust mit seiner rechten Hand, als würde er versuchen, diese zu schütteln. „Cringe“, murmelt der Urenkel vor sich her und verschwindet wieder.
Klaus erklärt Leopold, dass das eine neue Art der Begrüßung sei. „Es werden beide Fäuste kurz gegeneinandergedrückt.“ Doch Leopold hört seinen Sohn nur noch wie durch Watte, denn er erblickt den Weihnachtsbaum. Dieser hat sofort seine volle Aufmerksamkeit. Statt grün ist er nämlich weiß. Er wird von dem Baum angezogen wie Gelsen vom Licht. Bei genauerer Betrachtung kommt er drauf, dass dieser weder aus Holz noch aus Nadeln besteht, sondern zu 100% aus Plastik. Entsetzt macht er einen Schritt zurück und tritt dabei Elisabeth auf die Füße. Elisabeth ist die Lebensabschnittspartnerin von seinem Enkel Christian und die Mutter von Pascal. „Ist er nicht wunderschön?“, vernimmt er aus ihrem Mund. Vor lauter Schreck bleiben ihm die Worte im Hals stecken. Sie spricht weiter: „Wir sind so glücklich, jetzt müssen wir uns nie wieder um einen Baum kümmern. Außerdem nadelt er nicht und ist innerhalb von einer Minute aufgebaut. Wie meine Kinder so gerne sagen: YOLO.“ An Leopolds Blick erkennt sie schnell, dass er ihr nicht ganz folgen kann.
„Ach, wahrscheinlich kennt er den Ausdruck nicht“, denkt sie sich. „YOLO bedeutet übersetzt, dass wir nur einmal leben und deswegen unser Leben genießen sollen.“
„Na gut, dagegen ist ja nichts einzuwenden“, denkt sich Leopold.
Sie setzt fort: „Deshalb haben wir beschlossen, dieses Weihnachtsfest so gemütlich wie möglich zu begehen. Ein aufklappbarer Weihnachtsbaum, gekaufte Kekse aus dem Supermarkt und zum Essen haben wir große gefüllte Brez’n bestellt. Vegetarische, vegane und auch etwas für die Fleischesser!“
Der Uropa schwankt leicht, als er beginnt, das Gesagte zu begreifen. Sein Sohn Klaus stützt ihn und führt ihn zu einem Sessel, damit er sich hinsetzen kann. Dieses YOLO kann Leopold zwar verstehen, aber für ihn klingt es so, als wäre Weihnachten einfach abgesagt. Eine Träne kullert ihm über die Wange. Er braucht einen Moment für sich und vergräbt sein Gesicht in seinen Händen. Ein leises Seufzen entfleucht ihm. Sein geliebtes Weihnachten, wie er es kannte, ist nun tatsächlich vorbei. Na gut, im Altersheim haben sie schließlich auch nicht alle im selben Schaffel gebadet, sondern jeder im eigenen Badezimmer geduscht. Die Welt verändert sich, und das ist auch gut so. Trotzdem gibt es Erlebnisse und Gefühle, die Leopold gerne festhalten und immer wieder erleben würde. Doch schon sehr oft in seinem bisherigen Leben hat er den Zauber von Veränderung erlebt, zum Beispiel als sein Sohn Klaus geboren wurde.
Langsam gewinnt er seine Fassung zurück und beschließt, dem neuen Weihnachtsfest 2023 eine Chance zu geben. Schließlich geht es darum, die Zeit mit seinen Liebsten zu verbringen, und das ist definitiv der Fall.
Als er an diesem Abend um 23 Uhr mit seinem neuen Pyjama im Bett liegt, lässt er das Erlebte nochmal Revue passieren. Ungläubig schüttelt er den Kopf. Was für eine kreative und zugleich verrückte Familie hat er eigentlich?
Eine der neuen Weihnachtsregeln war nämlich, dass alle den ganzen Weihnachtsabend lang mit einem Pyjama gekleidet sind. So viel Farbenpracht in einem Raum war kaum auszuhalten. Da waren Schleifen, Zuckerstangen, Tannenbäume, Eiskristalle, Schneemänner, Rentiere und vieles mehr auf Baumwolle gedruckt, soweit das Auge reicht.
Das skurrilste Kleidungsstück hat allerdings Leopold geschenkt bekommen. Nachdem Pascal mit ernster Miene zuerst nur ein „lol“ hervorbrachte, hielt sich auch er schließlich den Bauch vor lauter Lachen. Ein mindestens fünfminütiger Lachanfall ereilte die ganze Familie, als Leopold seinen neuen Pyjama vorführte.
Auf diesem waren Lebkuchenfiguren abgebildet, mit zwei baumelnden Glocken zwischen den Beinen. Manche waren auch von hinten zu sehen mit prallen Pobacken aus Lebkuchen. Damit diese Lebkuchenmännchen nicht ganz nackt sein mussten, trugen sie noch eine Zipfelmütze auf dem Kopf. Abgerundet wurde das Meisterwerk mit Schneeflocken und Zuckerstangen. Wer sowas überhaupt kauft, ist dem Uropa nun klar.
Seit seine Mitzi verstorben ist, hat er nicht mehr so viel gelacht wie heute Abend. Er liebt das neue Weihnachten. „Manchmal sind Veränderungen eben doch gut“, murmelt er mit schon geschlossenen Augen in seinen Bart.
Mit einem Grinser auf den Lippen schläft er ein.
Kerstin Renner ist Autorin, Mentaltrainerin, Lachwurzn und Ghostwriter.