Der Zaubertrank
von Sonja Warter
von Sonja Warter
‚Scheiß Weihnachtszeit‘, dachte Alexandra und blickte frustriert aus ihrem Küchenfenster. Es war ein typischer End-Novembertag: Nebelig, grau, ein bisschen regnerisch. Außerdem war es der erste Adventsonntag. Die meisten Leute saßen jetzt mit ihrer Familie um den Adventkranz und zündeten gemeinsam die erste Kerze an. Alexandra jedoch war allein in ihrer Wohnung. Familie hatte sie nicht und ihre Freunde hatten an solchen Tagen keine Zeit für sie. Adventkranz hatte sie gleich gar keinen gekauft. Wozu auch? Damit sie trübselig auf die Kerzen starren konnte? Lieber nicht! „Vielleicht ist ja etwas Gutes im Fernsehen“, hoffte sie und schaltete die Flimmerkiste ein.
Plötzlich hörte sie die Klingel. Seltsam. Wer sollte jetzt bei ihr anläuten? Sie ging zur Tür und machte auf. Draußen stand eine Frau, die ihr vage bekannt vorkam, und laut „Überraschung“ rief. Die Verblüffung stand Alexandra ins Gesicht geschrieben. Dann fiel der Groschen. „Das kannst du laut sagen“, stammelte sie. „Wir haben uns ja ewig nicht gesehen.“
„Ich habe in den letzten Tagen in alten Fotos gekramt und mich an die lustigen Adventkalender erinnert, die wir früher gebastelt haben“, erklärte die Besucherin. „Deshalb habe ich spontan beschlossen, die Tradition wieder aufleben zu lassen.“ Sie nahm einen großen grünen Weihnachtsbaum aus Filz aus der Tasche und drückte ihn Alexandra in die Hand. Die 24 aufgenähten Beutel waren prall gefüllt. „Ich muss jetzt gehen“, verkündete sie dann, drehte sich am Absatz um und verschwand wie ein Geist im Treppenhaus.
Alexandra starrte ihr hinterher. „Habe ich das jetzt geträumt?“ Sie hatte mit Michaela seit gut 20 Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Nach der Matura hatte sie ihre Schulfreundin aus den Augen verloren. Soweit sie wusste, hatte Michaela geheiratet und Kinder bekommen. Sie selbst hatte studiert, einige Beziehungen gehabt, von denen aber keine länger als drei Jahre gedauert hatte, und war einige Zeit im Ausland gewesen. Nun war sie wieder zurück in Wien und überlegte, was sie mit ihrem Leben weiter anfangen sollte. Ihr Blick fiel auf den Adventkalender in ihrer Hand. Geträumt hatte sie offenbar nicht.
Zwei Tage später, am ersten Dezember, nahm sie den Adventkalender wieder zur Hand und öffnete den ersten Beutel. Darin befand sich eine kleine Rolle aus Papier, verschlossen mit einem roten Lacksiegel, feierlich zusammengebunden mit einem goldenen Band. Vorsichtig öffnete sie die Rolle. „Rezept für einen Zaubertrank“, stand da. „Jeden Tag erhältst du jeweils eine Zutat. Am 24. Dezember erfährst du, wie daraus ein Zaubertrank entsteht. Wenn lila Dampf aufsteigt, nimm einen Schluck und es wird ein Wunsch in Erfüllung gehen. Entscheide weise, du hast 24 Tage Zeit, deinen Wunsch auszuwählen.“
Tatsächlich entdeckte Alexandra von nun an in jedem der bunten Beutel eine Zutat. Es waren die exotischsten Dinge darunter, von einem kleinen weißen Milchzahn über Wurzeln des magischen Riesenbaums bis hin zu glitzerndem Einhornstaub und blassrosa Feenblut. Zumindest stand das in der Beschreibung. Mit jedem Tag fand Alexandra mehr Gefallen an der Adventkalender-Schatzsuche. Aber was sollte sie sich wünschen? Dass sie endlich ihrem Traummann begegnete? Dass sie wieder aussah wie 20, obwohl sie bereits Ende 30 war? ‚Nein, lieber etwas Praktisches‘, dachte sie. Den Glauben an den Traummann hatte sie ohnehin schon vor Jahren aufgegeben. Und das mit dem Aussehen? „Naja, ein bisschen Lebenserfahrung im Gesicht ist eigentlich ganz ok!“ Aber wovon sie wirklich etwas hätte, wäre, wenn sie diese verdammte Brille nicht mehr bräuchte. Sie hatte sich nie an das elende Ding auf ihrer Nase gewöhnt, zuhause verlegte sie es ständig und im Winter lief es dauernd an.
Am Abend des 24. Dezembers, als alle anderen mit ihren Familien Kekse essend um den Christbaum saßen und Weihnachtslieder sangen, begann sie, den Zaubertrank zuzubereiten.
Plötzlich schrak sie auf. Es hatte geläutet. Michaela stand vor der Tür. „Du kommst genau richtig“, sagte Alexandra, ohne zu fragen, warum Michaela einfach so, ohne Ankündigung, am Weihnachtsabend bei ihr auftauchte. „Ich koche gerade deinen Zaubertrank. Du kannst mir gerne helfen.“ Nach einer Stunde, in der sie in Erinnerungen an ihre gemeinsame Jugend geschwelgt hatten, stieg endlich lila Dampf aus dem Kupferkessel mit dem Elixier. Es war so weit. Unter den ermutigenden Blicken von Michaela nahm Alexandra einen vorsichtigen Schluck.
„Und?“, fragte Michaela.
Wortlos nahm Alexandra die Brille ab und sah sich im Zimmer um. „Ähhhhhh – nichts, immer noch alles verschwommen“, antwortete sie dann mit enttäuschter Stimme.
Michaela zuckte die Schultern. „Manchmal funktioniert‘s, und manchmal nicht“, meinte sie, blickte Alexandra an und brach in schallendes Gelächter aus. Alexandra stimmte ein. Die beiden bogen sich vor Lachen und konnten sich minutenlang nicht mehr beruhigen.
„Weißt du“, flüsterte Michaela als sie wieder sprechen konnte. „In Wahrheit habe ich den Zaubertrank erfunden, damit ich zu Weihnachten ungefragt bei dir reinschneien kann. Als ich mich vor einem halben Jahr habe scheiden lassen, habe ich festgestellt, wie wichtig Freunde sind und wie sehr ich meine vernachlässigt habe. Deswegen habe ich mir die Sache mit dem Zaubertrank ausgedacht und mir gewünscht, dass ich damit unsere Freundschaft wieder aufleben lassen kann.“
Alexandra blickte sie zuerst überrascht und dann nachdenklich an. „Eigentlich bedeutet das“, antwortete sie langsam, während ein Lächeln über ihr Gesicht huschte, „dass dein gefakter Zaubertrank doch funktioniert hat.“ Sie hielt kurz inne. „Sogar für uns beide.“