Der kleine Weihnachtsladen
Gabriele Herbst
Gabriele Herbst
Einzelne Flocken tanzten durch die Nacht, der Schein der Laternen suchte sich seinen Weg durch die Dunkelheit und tauchte die Straße in ein gelbliches Licht. Frischer Schnee knirschte unter Lilys Schuhen. Sie sah in die Fenster der Häuser, sah Familien um den Weihnachtsbaum sitzen und feiern. Sah, wie Kinder das Papier von den Geschenken rissen und jubelten. Sah eine Familie beim Festmahl sitzen. Schnell wandte sie ihren Blick ab. Ihr war zum Heulen zumute. Bloß nicht weinen, das änderte auch nichts. Sie schluckte die Tränen hinunter, senkte den Kopf und hastete weiter. Als sie das nächste Mal aufblickte, fand sie sich in der kleinen Einkaufsstraße wieder. Im Vorbeieilen schielte sie in die Schaufenster; nichts von diesen Dingen konnte sie sich leisten.
Seit sie vor zwei Monaten vor die Tür gesetzt worden war, lebte sie allein in einem schäbigen Zimmer. Sie war nicht traurig, dass sie ihre Pflegeeltern mitsamt ihrem verzogenen Gör los war, das Leben als ungeliebtes Anhängsel war nicht besonders erfreulich gewesen.
Aber das Geld, das sie als Aushilfe in der Bäckerei verdiente, reichte kaum zum Überleben. Wenn sie sich wenigstens etwas Besonderes zu essen leisten könnte, würde das den Tag etwas erträglicher machen. Aber Träumen half auch nichts. Den Blick nach vorne gerichtet, stapfte sie weiter.
Plötzlich stutzte Lily. Sie stand vor einem Laden, den sie noch nie gesehen hatte. Das Schaufenster war kaum eine Armspanne breit, statt einer Auslage hing im Fenster ein Schild, beleuchtet von einem einzelnen Spot:
„Nur an Weihnachten geöffnet.“
Die Tür stand einen Spalt offen, aus diesem drang eine warme Wolke aus gemischten Gerüchen – etwas von Lebkuchen, ein bisschen Punch, Orange, Zimt und Vanille. Lily spähte durch das Fenster, konnte aber nicht erkennen, was in den Regalen lag. Ob sie wohl warme Getränke verkauften? Lily griff in ihre Hosentasche und zog ein paar Münzen heraus. Viel war es nicht, aber für einen Punch müsste es reichen. Das war zwar kein Festmahl, aber immerhin etwas Besonderes. Vorsichtig drückte sie gegen die Tür. Als diese aufschwang, ertönte das Bimmeln einer Glocke. Der Laden war viel größer, als er von außen aussah. Eine lange Reihe von Regalen, in denen bunte Weihnachtsgeschenke gestapelt waren, verlor sich in den Tiefen des Raumes.
Oh nein, doch ein Geschenke-Laden, das fehlte ihr gerade noch! Sie wollte die Flucht ergreifen, da erklang eine helle Stimme. „Hallo Liebchen!“ Eine kleine Frau trat hinter einem Regal hervor.
„Äh, …“ Lily starrte sie an. Trotz der unzähligen Falten und der wässrigen Augen strahlte die Frau eine Lebendigkeit aus, um die sie jede 20-Jährige beneiden würde. „Ich habe mich geirrt. Ich wollte gerade wieder gehen.“
„In diesen Laden kommt niemand ohne Grund.“ Die Alte nahm Lily an der Hand und zog sie tiefer in den Laden. „Komm mit! Zwischen all diesen Paketen ist eines mit deinem Namen.“
„Es tut mir leid. Ich habe kein Geld. Ich hätte nicht hereinkommen sollen.“ Lily wollte umkehren, aber die Alte hielt sie fest. „Du brauchst nichts zu bezahlen. Es ist dein Weihnachtsgeschenk.“
Lily senkte ihren Kopf. „Mir hat noch nie jemand was geschenkt.“
„Dann wird es höchste Zeit.“ Die Frau schob sie zwischen zwei Regalreihen. „Wenn du es gefunden hast, bin ich wieder da“, sagte sie und verschwand.
Lily ließ ihren Blick über die Bretter schweifen. Sie sah kleine und große Päckchen, in goldenes, silbernes oder buntes Papier gehüllt. Manche hatten kleine Kettchen, an denen die Namensschilder hingen, an anderen steckten sie unter einer Schleife.
Hoffentlich würde sie etwas Teures bekommen, etwas, das sie gut verkaufen konnte.
Sie schlenderte durch die Reihen, schaute hier auf ein Schild und da. Sie suchte die Päckchen heraus, die entweder besonders schön und glitzernd eingepackt waren oder sehr groß. Aber auf keinem stand ihr Name. Lily seufzte. Wie sollte sie unter diesen Unmengen ihres finden? Als Lily in der letzten Reihe angekommen war, hatte sie ihr Geschenk immer noch nicht gefunden. War ja eh klar – wieso sollte sie etwas einfach so bekommen? Frustriert schlurfte sie Richtung Hauptgang.
Da sah sie es, auf dem letzten Bord ganz hinten. Ein unscheinbares Päckchen in braunes Papier eingeschlagen, es hatte noch nicht einmal eine Schleife. Lily war sofort klar, das war ihres. Ein Blick auf das Namensschild bestätigte ihre Ahnung. Sie wollte es schon liegen lassen, besann sich dann aber anders. Ihre Neugier war zu groß, außerdem war es umsonst, verlieren konnte sie daher nichts. Vorsichtig zog sie ihr Geschenk hervor und wickelte es aus. Ein kleines Etui kam zum Vorschein, mit einer samtenen Oberfläche, wie von einem Juwelier. Das sah schon besser aus. Sie klappte den Deckel auf und schnappte nach Luft. Vor ihr lag ein goldenes Medaillon, in der Mitte der Vorderseite war ein Stein eingefasst, der im Licht funkelte. Ehrfürchtig fuhr sie mit dem Zeigefinger darüber. Dafür würde sie sicher viel Geld bekommen, wenn sie in die Großstadt fuhr.
Plötzlich stand die alte Frau wieder neben ihr und tätschelte ihr den Rücken. „Öffne es!“
Vorsichtig nahm Lily das Medaillon heraus und klappte es auf. Im Inneren befanden sich zwei Portraits. Obwohl Lily sich nicht an ihre Eltern erinnerte, wusste sie sofort, dass sie es waren, die ihr entgegenblickten. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie schloss die Hand darum und presste es an ihre Brust. Egal wie teuer es auch sein mochte, sie würde lieber am Hungertuch nagen, als sich davon zu trennen.
„Danke.“ Mehr brachte sie nicht heraus.
Die Frau lächelte und geleitete sie zur Tür. Bevor Lily auf die Straße trat, blickte sie die Frau an. „Was ist das für ein seltsamer Laden?“
Die alte Frau strich ihr über die Wange. „Hier bekommt jeder das, was er sich aus tiefstem Herzen wünscht!“
Gabriele Herbst ist Autorin, Juristin und angehende Ghostwriterin.