Wer braucht schon Weihnachten?
Monika Bock
Monika Bock
Wo man auch hinsah, vorweihnachtliche Idylle. In den Vorgärten der Häuser blinkten bunte Lichterketten, Rentiere, Weihnachtsmänner und Sterne jeder Größenordnung um die Wette. Im Radio hörte man fast täglich „Last Christmas“ und im Fernsehen hatten romantische Liebesfilme mit glitzernden Schneelandschaften wieder Hochsaison.
„Echt jetzt? Schon wieder diese blöde Weinachtsdeko? Wehe, du kommst damit auch in mein Zimmer!“ „Wohl kaum, dazu müsste ich ja erst mal in dein Zimmer reinkommen, ziemlich unmöglich bei den Bergen von Zeugs auf deinem Fußboden“, entgegnete Jos Mutter. Jo hieß eigentlich Joseph, nach seinem Opa. Seiner Meinung nach wohl der uncoolste Name ever.
Anne liebte ihren mittlerweile 17-jährigen Sohn, obwohl sie ihn mindestens einmal pro Woche auf den Mond wünschte. Sie seufzte und dachte an die Zeit, in der sich Jo auf Weihnachten gefreut und aufgeregt nachgesehen hatte, ob das Christkind seinen Brief schon abgeholt hatte. Heute sah er diesen Festtag samt den ganzen Vorbereitungen nur mehr als lästige, längst überholte Tradition, die noch dazu alljährlich mit dem Besuch der lieben Tante Elvira einherging. Die alte Dame, manches Mal schon leicht verwirrt, konnte es noch immer nicht lassen, ihn in die Wange zu kneifen. Grummelnd verzog sich Jo in seine Höhle, wie Anne sein Zimmer gerne nannte.
„Auch diese Phase wird vorübergehen“, dachte sie und ging, um weiter ihre Mails zu bearbeiten.
Am nächsten Tag kam eine neue Mitschülerin in Jos Klasse. Mit gesenktem Kopf setzte sie sich auf den leeren Platz in der letzten Reihe. Man sah ihr an, dass sie sich gerne unsichtbar gemacht hätte. Man hörte ein Raunen, Flüstern, auch ein kurzes Lachen von irgendjemandem, bis der Prof reinkam und mit den ach so spannenden Sinus- und Cosinus-Kurven weitermachte. Immer wieder schaute Jo in die Richtung der Neuen – er konnte einfach nicht anders. Sie gefiel ihm. Sie war nicht gestylt, eher der natürliche Typ. Das lange braune Haar einfach zum Zopf gebunden, Jeans und Hoodie. Das Mädchen wurde der Klasse als Evelyn vorgestellt, hergezogen aus einem ganz anderen Teil des Landes.
Auch zu Hause ging Jo die Neue nicht aus dem Kopf. „Wo bist du denn gerade mit deinen Gedanken?“ Er zuckte zusammen, als seine Mutter ihn ansprach – er hatte nicht bemerkt, dass sie auch in die Küche gekommen war. „Was denn? Was meinst du?“ Er fühlte sich ertappt. „Du wolltest gerade das schmutzige Geschirr in den Eiskasten stellen. Gehört das nicht irgendwie in den Geschirrspüler?“ Hochrot im Gesicht murmelte er irgendetwas Unverständliches und verschwand wieder in seinem Zimmer. Anne musste grinsen und dachte nur: „Bin gespannt, was oder wer ihn da so durcheinanderbringt.“
Eine Woche lang schlich Jo um Evelyn herum, traute sich aber nicht, sie anzusprechen. Sie wirkte eher verschlossen und ging auch nicht von sich aus auf die anderen in der Klasse zu. Der Zufall kam ihm zu Hilfe. Er ging schwungvoll um eine Ecke und knallte direkt mit Evelyn zusammen. Ihr fiel das Handy aus der Hand. Jo entschuldigte sich stotternd und hob es auf. Als er es ihr geben wollte, sah er, dass sie geweint hatte. „Hey, was ist los?“ „Nichts, geht schon“, erwiderte sie schniefend. „Ich … also, wenn du … du kannst es mir ruhig erzählen. Ich, ich kann ganz gut zuhören.“ „Es ist nur wegen meiner Mutter.“ „Nervt sie?“ „Nein, sie ist okay, aber sie fehlt mir und ich mache mir Sorgen.“ „Sorgen? Wieso? Ist sie verschwunden?“ Jetzt musste Evelyn fast schon lachen. „Nein sie hatte einen saublöden Unfall, ist gestolpert, eine Stiege runtergefallen und liegt jetzt mit einem komplizierten Beinbruch im Krankenhaus. Jetzt bin ich allein zu Hause.“ „Wo ist dein Vater?“ „Meine Eltern sind schon lange getrennt. Er arbeitet gerade an einem Bauprojekt irgendwo in Australien. Kannst also vergessen“, erwiderte sie schulterzuckend. „Naja, ist ja auch ganz cool – keiner, der einem dauernd sagt, was man machen soll“, grinste Jo. „Was? Zu Weihnachten?“ Ihre Miene wurde wieder traurig. „Wie meinst du das?“ „Ich mag Weihnachten, wir backen Kekse, gehen auf Märkte, trinken Punsch, schmücken den Baum. Seit ich denken kann, freue ich mich jedes Jahr auf diese Zeit. Diesmal gibt es genau nichts.“ Geräuschvoll schnäuzte sie sich. „Ich weiß, is blöd“, meinte sie und starrte auf ihre Schuhe. „Äh, also nein, das äh … ist nicht blöd. Ich, äh … mag Weinachten ja auch irgendwie.“ „Echt?“ Verwundert schaute sie ihn an. „Also ich brauch nicht so den Kitsch, also das blinkende Dekozeugs, aber schön ist es schon, wenn dann alle so zusammenkommen und feiern.“ Jo konnte es selbst kaum glauben, was er da sagte. Er, der Coole, der erst vor einigen Tagen seiner Mutter erklärt hatte, wie öde und überholt er das alles fand. Aber auf einmal wurde ihm klar, dass es auch ihm fehlen würde, hätte er keine Familie, mit der er feiern konnte.
Am 21. Dezember traute sich Jo, seine Mutter zu fragen, ob es okay wäre, wenn Evelyn mit ihnen gemeinsam feiern würde, und erzählte ihr die ganze Geschichte. Grinsend stimmte Anne zu. Diese Weihnachten hatte Jos Familie also einen Gast mehr, und das veränderte vieles. Jo freute sich so sehr, dass er Evelyn doch noch ein Familienfest bereiten konnte, dass er das übliche Weihnachtszeug grinsend akzeptierte und mit seiner guten Laune alle ansteckte. Er trug sogar den Rentierpulli mit Leuchtnase, den er im letzten Jahr von Oma bekommen hatte.
Und Tante Elvira? Diesmal wurde sie selbst von einem lachenden Jo mit einem Wangenkneifer begrüßt!
Monika Bock ist Autorin, Coach und Ghostwriter.