Das Haus der leuchtenden Kinderaugen
Vanessa Brenner
Vanessa Brenner
„Nein, nicht schon wieder, ich habe das Maul gestrichen voll!“, entfuhr es Rudi und er stampfte wutentbrannt auf den Boden, so hart, dass es ihn beinahe selbst schmerzte. „Jedes Jahr diese vermaledeite, oberflächliche Scheiße, immer dieses Glücksgedöns, so tun als ob! Wir haben uns alle lieb! Es ist alles ach so toll! Die Welt ist ein so schöner Platz!“ Missmutig schüttelte er den Kopf. „Nichts von alledem ist wahr, ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wir haben Krieg, schon wieder. Unzählige Tote, verwaiste Kinder, Heimatlose und Flüchtende! Es gibt jede Menge Arbeitslose, auch bei uns. Und jene, die arbeiten, rackern sich ab für einen Job, der ihnen schadet, der sie ausbrennt, von Glückseligkeit und Spaß lichtmeilenweit entfernt! So wie bei mir! Ich habe keine Lust mehr auf dieses falsche Spiel von Nächstenliebe und Zusammenhalt! Das muss aufhören, diese Illusion muss Wahrheit werden, sonst sehe ich schwarz für unser aller Zukunft!“ Mit diesen Worten schnaubte er laut hörbar aus und warf sein prächtig mit Lametta und Girlanden geschmücktes Geweih in den Nacken. Die Glöckchen, die seinen buschigen Hals schmückten, läuteten angriffslustig.
„Aber Rudolf, nun mäßige dich doch. Jedes Jahr das gleiche Theater mit dir. Es ist bestimmt nur wieder die Vorfreude. Wenn du erst vor den Schlitten gespannt bist, und der Stress von dir abfällt, wenn du das Leuchten der Kinder in ihren Augen siehst, dann ist auch Weihnachten wieder dein Freund.“ Santa nickte mit dem Kopf, lachte und suchte Rudis Ohr, um es verständnisvoll zu kraulen.
„Neeeeeiiiiin, ich habe keinen Bock mehr!“, entfuhr es dem Rentier, das versuchte, die unerwünschte Hand von Herrn Claus abzuschütteln. „Ich kündige!“
„Aber du kannst nicht kündigen, du hast bereits eine Inventarnummer!“, kicherte Elfi, die pummelige, rothaarige und immer vorlaute Weihnachtselfe. Sie deutete auf Rudis linkes Ohr, das klar eine eingebrannte fünfstellige Nummer erkennen ließ. Fünfstellig! Hallo?! Rudi war einer von vielen, nur ein kleines Rädchen in diesem sich immer drehenden und für ihn sinnlos gewordenen Rädergewirr. Er war sich sicher, dass auf ihn verzichtet werden konnte, dass er fehl am Platz war, dass es an der Zeit war, das Weite zu suchen und – wie auch immer – wahre Freude und Liebe in die Welt zu bringen. Rudis Nase schwoll rot an und pochte, und er scharrte aggressiv mit den Hufen.
„Gut, ich sehe dieses Jahr bist du noch weniger besinnlich gestimmt als bereits die Jahre zuvor“, erkannte Santa, kraulte sich den langen grauen, krausen Bart und nickte zustimmend. „Komm mit mir ins Personalbüro, ich stelle dir die Kündigung aus.“
„Nimm Platz, und bedien dich. Hier ein paar frische Lebkuchen. Und da ein Schluck vom Mistelzweig-Glühwein, meine Eigenkreation, die wird deinem aufgebrachten Gemüt gut tun.“ Herr Claus klopfte Rudi väterlich auf den Rücken, um etwas Spannung aus der verfahrenen Situation und dem Rentier zu nehmen. „Ist es dir denn wirklich ernst damit, uns zu verlassen? Und was willst du mit der gewonnenen Zeit anfangen?“
Ein entnervtes Schnauben entfuhr Rudi, und er erschauerte am ganzen Körper, so als wollte er abermals den unerwünschten Arbeitgeber und damit auch die inzwischen verhasste Tätigkeit abschütteln. Bockig wie ein kleines Kind rammte er sein Geweih in das Tischchen neben seinem Stuhl. Damit fegte er diesen mitsamt dem kleinen Kännchen aus feinen, mit Schneeflocken bemaltem, Porzellan und Inhalt – den wärmstens angepriesenen Mistelzweig-Glühwein – in die nächste Ecke.
Klirr!
„Ach herrjeeee, Rudi, muss das sein?“ Santa erkannte seinen Schützling gar nicht wieder. „Es wird wohl schon länger in dir rumoren. Gut, ich werde deinem Glück nicht im Wege stehen, hier hast du deine Austrittspapiere. Ich wünsche dir alles erdenklich Gute für die Zukunft. Sei gewiss, du bist jederzeit herzlich willkommen hier auf dem Schneeberg, solltest du dir die große weite Welt da draußen angesehen haben und es dich wieder nach Hause ziehen.“
‚Nach Hause, pffffff, der alte Mann hat doch keine Ahnung!‘ Rudi war außer sich, bloß weg vom Schneeberg, weit weg von dieser scheinbar heilen Welt. Raus in die Realität, dort, wo nicht alles glatt zu laufen schien. Dort, wo er vielleicht wirklich gebraucht wurde.
Das Rentier hatte sich bereits vor Monaten einen von den Weihnachtsgeschenken übrig gebliebenen Laptop geschnappt, um einen Einblick auf das Geschehen außerhalb von Wichtelhausen zu gewinnen. Herr Claus hatte es nicht mitbekommen, zum Glück, denn er hätte es auch sicherlich nicht gutgeheißen. Hatte es doch Rudis heile Weltanschauung endgültig zerstört. Er hatte erst einmal einige Tage benötigt, bis er das WLAN von Santa hacken und sich mit dem Internet verbinden konnte. Wer ließ sich auch so ein blödes Passwort wie „Rauschebart1234“ einfallen?
Rudi hatte beinahe der Schlag getroffen, als er sich langsam mit dem Internet vertraut machte. Er musste mit Entsetzen feststellen, was da draußen so vor sich ging. Ein seit über Monaten andauernder Krieg in Osteuropa, ein weiterer, welcher gerade erst in Vorderasien begonnen hatte.
Mord und Totschlag standen an der Tagesordnung, Gier und Hass waren über die Welt verbreitet. Eine Welt, die inzwischen nur noch von mächtigen Drahtziehern regiert wurde, die Angst und Unsicherheit in den Menschen schürten. Dies war der letzte Tritt in den Allerwertesten, den Rudi brauchte, um sich von der Arbeit als Schlittenzieher loslösen zu können. Diese hatte ihn ohnehin nie wirklich erfüllt. Und so wollte er raus aus dem trügerischen Idyll des Schneebergs und wirklich Gutes für die Menschen vollbringen. Und das nicht nur mit einem Geschenk an einem lächerlichen Tag im Jahr. Nein, er wollte den Menschen jeden Tag zum Geschenk machen. Sein Herz war so voller Liebe, es quoll über davon, und er wollte dieses Übermaß mit allen teilen, um damit wieder Sinn in die Existenz der Menschen zu bringen und diese Welt zu einem besseren Ort zu machen. Aber er hatte sich bis eben nicht wirklich Gedanken gemacht, wie genau er das in die Tat umsetzen wollte, was genau nun seine neue Tätigkeit, sein Akt der Liebe sein könnte.
Da stand er nun draußen vor den Toren von Wichtelhausen. Der Wind blies ihm kalt um die Nase, die dadurch nur noch röter wurde, und es fröstelte ihn im Nacken. Er schüttelte die Glöckchen mit einem lauten Klirren ab. ‚Die kann der alte Rauschebart dem nächsten jungen, naiven Rentier umschnallen!‘ Dadurch wurde sein steifer Hals zwar leichter, aber nur an Gewicht, nicht an dem, was ihm da wirklich auf den Schultern lag. Denn nun war es an Rudi, einen klaren Gedanken zu fassen, was ihm aufgrund der Umstände und der Dynamik der vergangenen Stunden schier unmöglich erschien.
‚Ist es eine blöde Idee gewesen? Bin ich überhaupt stark genug, um etwas da draußen zu bewirken?‘ Rudi war verunsichert, ob er überreagiert hatte und seinen Dienst bis zur wohlverdienten Stallrente nicht doch aussitzen hätte sollen. Mist, da waren sie, Zweifel, Ängste und jede Menge alter Glaubenssätze. Aber umdrehen und sich vor Santa und seinen Wichteln zum Gespött machen? Niemals, da stand Rudi sein Stolz im Weg.
Bloß gut, dass er geistesgegenwärtig sein Heuballenkissen zur Seite geschubst und seine Mütze und den Laptop mitgehen hatte lassen. Aber hier draußen in diesem Schneesturm ein WLAN finden und dann auch noch hacken? Schwierig bis unmöglich.
Rudi zog seine Wollmütze tief ins Gesicht, sodass er kaum noch etwas sehen konnte, und stapfte los in die Richtung, in der er das nächste Dorf vermutete.
Stunden vergingen, die Dunkelheit war längst hereingebrochen, und sowohl diese als auch die in die Augen hängende Mütze und der Schnee, den es ihm erbarmungslos ums Geweih wehte, machten es Rudi kaum möglich, auch nur noch irgendetwas zu erkennen.
‚Da, was ist das?‘ Hatte er dort hinten am Horizont ein klitzekleines Fünkchen Licht, beinahe nur ein winziges Glitzern an der Schneeoberfläche, gesehen? Er kniff die Augen fest zusammen, um etwas schärfer durch den Sturm sehen zu können. War es eine Halluzination gewesen, ein Hirngespinst, das sich in seine beinahe eingefrorenen Gehirnwindungen zu drängen schien? Nein, nun war er sich sicher, es war eine Beleuchtung in Form des Sterns von Bethlehem, die ein fanatischer Dekorateur bei Einbruch des Schneesturms am Torbogen aufgehängt hatte, um Heimkommenden den Weg in das Dorf zu leuchten.
Rudi hatte Glück, er fand einen kuscheligen Stall, der ihm sowohl Obdach als auch ein Maul voll frischem Heu spendete. Total geschafft vom ereignisreichen Tag fiel er im Anschluss an sein Abendbrot sogleich in einen unruhigen Schlaf, gespickt mit den irrsinnigsten Träumen.
In einer Schlafphase fand er sich in einem Zirkus wieder. Dank seiner roten Nase war er dort der Star unter den Clowns, die sowohl auf ihm als auch einer Herde Ponys in die Manege ritten. Diese war gestoßen voll mit Menschen, die ihm tosend applaudierten und lachten und denen er mit seinem Auftritt ihren grauen Alltag versüßen konnte.
In einer weiteren Sequenz befand er sich in einer Suppenküche für Obdachlose. Diese waren ihm freundlich gesinnt, aber nicht ganz so belustigt wie das Zirkuspublikum, da er jedes Mal ungeschickt mit seinen Hufen die Kelle fallen ließ oder die Suppe an der Schüssel vorbei goss.
Im nächsten Kapitel seiner unruhigen Nacht war er Telefonist in einem Callcenter. Dort verstrickte er sich mit seinem Geweih im Telefonkabel und hätte sich fast selbst erwürgt, was ein zuvorkommender Wichtel vor Rudis letztem Atemzug mithilfe einer Schere zu verhindern wusste.
Kurz vor dem Morgengrauen und seinem Erwachen ereilte ihn dann auch noch die eintönige Arbeit im Einpackservice eines bekannten schwedischen Möbelhauses. Rudi war aufgrund seiner Tollpatschigkeit dort lediglich für den Austausch von gelben auf blaue Säcke zuständig – wie eintönig! –, während sein Kollege, ein Schaf, die schöne Arbeit machte und alles in glänzendes Geschenkpapier wickelte und Schleifen darum band.
Zu guter Letzt – und das war nun wirklich die beste Episode in seinen schrägen Träumen – durfte er mit den Kindern des Dorfes einen Schneemann bauen, zumindest versuchte er es mit seinen ungelenken Hufen. Es entstand dabei ein unförmiger Zeitgenosse mit einer labbrigen Karottennase und krummen Zweigärmchen. Schön war er nicht, aber die Kinder hatten Freude und dankten es Rudi mit einem Leuchten in ihren Augen – das einzige, worauf er sich jedes Jahr freuen konnte.
Verwirrt erwachte Rudi und schüttelte sich, als könnte er damit auch diese schrägen Träume loswerden. Es war der nächste Morgen. Er befand sich im Stall, er hatte gekündigt und sich aufgemacht, um da draußen etwas zu verändern. Zumindest das war kein Traum gewesen.
Seine Träume aber hatten ihm eines deutlich gemacht: Mit seinen tollpatschigen Hufen würde er nicht weit kommen. Lediglich im Zirkus konnte er sich als Reittier und Clown verdingen, da hätte er aber auch bei Herrn Claus und seinen Wichteln bleiben können.
„Was kann ich bloß tun? Wie kann ich den Menschen helfen und diese Welt wieder zu einem besseren Ort machen?“, grübelte Rudi laut vor sich hin, während er sich aus seiner Box hievte und die Stalltüre mit seinem rechten Vorderhuf aufstieß.
„Wir helfen dir, das ist doch klar!“, tönte es da aus unzählig vielen Mündern und Mäulern.
Rudi presste seine Augen ungläubig aufeinander und riss sie wieder auf. Doch nichts änderte sich an der ihm gebotenen Szenerie. Vor ihm standen jede Menge … hmmm … Freunde?
Paul, das Shetland-Pony aus dem Zirkus. Olli der Obdachlose und Konrad der Aushilfskoch aus der Suppenküche. Winnie, der Wichtel, der Rudi vor dem Erstickungstod im Callcenter gerettet hatte. Wooly, das Schaf aus dem Einpackservice. Frostie der Schneemann, im Schlepptau die Kinder, die ihn gebaut und ihm Leben eingehaucht hatten.
Was war geschehen? Es waren doch nur Träume gewesen! Wie konnte das sein? Wie lange war Rudi bereits im Dorf und in diesem Stall? War das jetzt ein Weihnachtswunder?
„Ich, ich war das“, ertönte ein dünnes Stimmchen, als hätte es Rudis Gedanken gehört. Es war Winnie, der Wichtel. Aber natürlich! Wie konnte das Rentier das vergessen, hatte er doch so viele Jahre mit einer Schar dieser kleinen, fleißigen, spitzohrigen Gesellen verbracht! Weihnachtswichtel verfügten über Zauberkräfte. Und so hatte Winnie in Windeseile – oder in einer Nacht – sämtliche Fertigkeiten des Rentiers getestet, und es nach all den Miseren für klug befunden, ihm kompetente Freunde zur Seite zu stellen. Rudi und seine tollpatschigen Hufe waren nun nicht mehr allein. Mit seinen neuen Begleitern und deren Talenten war auch sofort eine Idee geboren. Mit ihnen gemeinsam würde Rudi einen kleinen Weihnachtsmarkt aufbauen. Dessen Stände konnten über ein Callcenter mit Geschenken beliefert werden, die von fleißigen Wichtelhänden und geschickten Schafhufen eingepackt wurden. Eine Suppenküche stand bereit und würde die vom Spielen hungrigen Kinder und sämtliche bedürftige Obdachlose speisen. Frostie würde für das Schneemannbauentertainment eingeteilt, und Rudi und Paul selbst wären dann für einen Reitservice für die Kinder eingespannt.
Eine irrsinnige Idee, noch irrer als die Träume der vergangenen Nacht oder welcher Nächte auch immer. Doch durch diesen Einfall würde Rudi ein Startkapital für sein eigentliches Projekt erwirtschaften, das ihm auch sogleich vor Augen stand. Er wollte ein Waisenheim gründen, denn Rudi wollte das Leuchten der Kinderaugen an jedem Tag im Jahr sehen. Er wollte sie lehren, dass es ein Privileg und Geschenk war, auf dieser schönen Welt sein zu dürfen. Rudi wollte sie darin unterstützen, jeden Tag aus ganzem Herzen zu lachen und mit ihren Freunden zu spielen. Er wollte ihnen zeigen, dass ihrer Fantasie keine Grenzen gesetzt waren, und dass sie später als Erwachsene einmal alles sein durften, was sie wollten – in erster Linie jedoch zufrieden und glücklich. Damit wollte er den Kindern einen unbeschwerten Start ins Leben ermöglichen, um sie zu den Menschen heranwachsen zu lassen, die diese Welt so dringend benötigt. Menschen, die mit dem Herzen sehen. Menschen die einander in Freundschaft und Liebe begegnen. Menschen, die mit ihrem Zusammenhalt und ihrer Schöpferkraft den benötigten Frieden auf diese Welt brächten, die dieser Planet so dringend benötigt. Denn die glücklichen Kinder von heute sind die schöpferischen Erwachsenen von morgen, da war sich Rudi gewiss. Der Name seines Waisenheims sollte „Das Haus der leuchtenden Kinderaugen“ lauten. Rudi war sich zum ersten Mal in seinem Leben sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Er wusste, dass er den wahren Wert von Weihnachten erfasst hatte. Dieser stellt sich nicht etwa in materiellen Geschenken dar, sondern es ist der Gedanke und die Weitergabe der Nächstenliebe und des Zusammenhalts.
Vanessa Brenner ist Autorin, Mentaltrainerin und angehende Ghostwriterin.