Wo bleibt er nur?
von Birgit Palasser
von Birgit Palasser
Moritz drückte seine Nase fest an die kalte Scheibe und Tränen rollten über seine Wangen. Sie flossen wie der Regen, der seit einigen Tagen vom Himmel strömte. Die Regentropfen klopften unermüdlich auf die Fensterbank. Die Fensterscheibe war von seinem warmen Atem angelaufen.
Moritz und seine Eltern waren bereits den dritten Tag auf der Almhütte in den Bergen. Es war eine sehr lange Anfahrt gewesen, Stunden hatte er auf dem Rücksitz des Autos verbracht und mit großen Augen auf die vorbeiziehende Landschaft geschaut. Aber auch schon bei der Anfahrt war alles regnerisch und vernebelt.
Dabei hatte es so vielversprechend begonnen. Mama und Papa hatten die warmen Sachen eingepackt, den neuen Pullover, den er von Oma für diesen Urlaub bekommen hatte, die warmen Stiefel und sonst noch allerlei Zeugs – das Auto war bis obenhin vollgepackt.
Als sie in der Hütte ankamen, war Moritz sehr aufgeregt. So ein Holzhaus hatte er noch nie gesehen. Und weit und breit war auch kein anderes Haus zu sehen. Das Holzhaus war wirklich ganz aus Holz, außen und innen, und es roch anders als zu Hause. Er rannte durch alle Zimmer. Außer der kleinen Küche und der Wohnstube gab es ein großes Schlafzimmer im ersten Stock mit einem Bett für die Eltern und einem Bett, das direkt am Fenster stand, für Moritz. In das Schlafzimmer konnte Moritz nur über eine Holztreppe gelangen, die außen an der Hütte angebracht war, und über den kleinen Balkon. Es war schon komisch, dass er sich anziehen musste, um ins Schlafzimmer zu kommen, so richtig mit Schuhen und Jacke.
Mama und Papa hatten alle Taschen ins Haus getragen und begannen, die Lebensmittel einzuräumen und die Zahnbürsten ins Badezimmer zu stellen. Moritz half dabei. Er räumte seine Pullover, seine Hosen und die dicke Jacke in den braunen Kasten aus Holz. Er hatte noch nie woanders gewohnt oder geschlafen als in seinem Zimmer, einem Zimmer mitten in der Stadt, in einer Umgebung, die er kannte.
Moritz war vier Jahre alt und diese neuen Eindrücke faszinierten ihn sehr. Er stellte alle möglichen Fragen. „Warum ist das Haus aus Holz?“ „Warum wird der Ofen nicht von allein warm?“ „Warum muss der Papa hier Holz vor dem Haus holen?“ „Warum darf ich nicht Feuer machen?“ „Warum riecht es im Zimmer so anders?“ „Warum gibt es hier keine anderen Häuser?“
„Warum regnet es immer?“ „Warum kann man die Berge nicht sehen?“ „Was sind Berge?“ „Warum ist er noch immer nicht da?“
Die Eltern hatten ihm doch versprochen, dass es ihn hier geben würde!
Moritz saß mit traurigem Blick am Fenster. Jetzt musste endlich was geschehen! Er hatte eine Idee: Er wollte ihn suchen gehen. Denn alle, alle hatten ihm gesagt, dass er hier sein würde und jetzt war es nicht mehr auszuhalten – seine Geduld war am Ende. Moritz‘ Eltern schliefen auf dem Sofa neben dem Ofen, sie wollten sich ein wenig ausruhen. Das war die Gelegenheit.
Er schlich leise aus der Wohnstube und schnappte sich seine Jacke, zog die Stiefel an, nahm die Handschuhe und die Mütze, so wie immer, wenn er zum Kindergarten gebracht wurde. Er war stolz, dass er sich schon lange selbst anziehen konnte. Leise öffnete er die Haustür und sah sich um. In welche Richtung sollte er gehen? Jedenfalls hinauf, diesen Weg hinauf, über die Wiese und dort oben, dort oben musste er ja irgendwo sein. Bevor er sich auf den Weg machte, ging er noch ins Schlafzimmer. Allein wollte er sich nicht auf den Weg machen. Er nahm seinen Fuchs mit, den er schon immer bei sich hatte, der auch mit in den Kindergarten durfte und dort in seinem Rucksack den ganzen Tag schlief.
Jetzt stapfte Moritz die Stiegen runter und die ersten kühlen Regentropfen fielen in sein Gesicht. Das kitzelte ein wenig und Moritz lächelte. Jetzt konnte es losgehen, er würde ihn schon finden!
Der schmale Weg führte hinter das Haus und es ging aufwärts. Hier konnte kein Auto fahren. So stapfte Moritz vor sich hin, den Fuchs in der Hand, und er blickte sich immer wieder um, auf der Suche nach ihm. Die kleinen Bäume ließen ihre Äste hängen, schwer von den Regentropfen und die Wiese war sehr nass. Moritz begann sein Lieblingslied zu singen, das Geburtstagslied, das seine Freunde bei der Feier letzte Woche gesungen hatten. „Heute kann es regnen, stürmen oder schneien …“, trällerte er vor sich hin, und ja, es regnete bereits seit Tagen. Moritz war lange unterwegs, doch weit und breit konnte er ihn nirgends sehen, denn der Nebel zog von allen Seiten auf. Auch das Holzhaus war nicht mehr zu erkennen. Moritz wollte noch um die nächste Kurve gehen und wenn er dort nicht war, dann wollte er zurück zu Mama und Papa laufen. Vielleicht war es besser, wenn die beiden ihm bei der Suche helfen würden. So marschierte er hoffnungsvoll weiter und erreichte die Kurve. Langsam ging er um die Biegung und hoppla: Er stolperte über eine Wurzel! Moritz fiel in die nasse Wiese und kugelte den Abhang hinunter, bis er irgendwo liegen blieb. Er hielt die Augen geschlossen. Er wollte nicht herausfinden, wo er war. Er drückte seinen Fuchs fest an seine Brust. Moritz war müde, alles war nass und er schlief ein.
Ah, es war so schön warm und es roch so gut nach Schokolade. Moritz hörte das Knistern des Ofens und ein leises Flüstern aus der Küche. Er spürte seinen Fuchs an seiner Wange, die sich sehr heiß anfühlte. Es war so kuschelig und angenehm, alles war weich und Moritz ließ seine Augen geschlossen. Plötzlich liefen seine Gedanken auf Hochtouren. ‚Was war passiert? Er war doch auf der Suche nach ihm. Er war gestürzt und in der nassen Wiese gelegen. Hatten ihn seine Eltern gefunden und nach Hause getragen? So musste es gewesen sein!‘ Moritz bewegte seine Füße. Mit seinen kleinen Zehen spürte er die Wärme unter der Decke, dieses Gefühl kam ihm sehr vertraut vor.
„Moritz, Moritz!“, flüsterte die Stimme seiner Mama. Er konnte ihren Atem spüren, am liebsten wollte er seine Arme um sie schlingen. Das tat er auch, aber seine Augen hielt er geschlossen, irgendwie fühlte er sich wie in einem Traum. Seine Mama hob ihn hoch und trug ihn durch den Raum. Das liebte er, so eingeigelt von ihr getragen zu werden, ihren Herzschlag zu spüren und alles andere zu vergessen.
„Moritz, mach die Augen auf! Schau, was es zu sehen gibt!“ Sein Papa war auch da.
Moritz blinzelte. Gab es eine Überraschung für ihn? Was könnte das wohl sein? Sein Geburtstag war schon vorbei.
Zaghaft öffnete Moritz die Augen. Sie standen vor dem Fenster, sein Blick ging nach draußen. Alles war weiß, überall, am Boden, auf der Fensterbank und der ganze Himmel war voll mit weißen tanzenden Federn! Wie damals, als er seinen Kopfpolster wie wild schüttelte.
Moritz’ Herz hüpfte vor Freude. Endlich. Das musste Schnee sein!
Er ließ sich aus den Armen seiner Mutter gleiten und rannte zur Tür, noch barfuß, riss sie mit aller Wucht auf und schon stand er im Schnee. Eiskalt war der und seine kleinen Hände griffen in das komische Etwas, in das Nasse, in das Kalte, in den Schnee, der doch ganz weich war und seine Augen zum Leuchten brachte. Moritz griff mit seinen Armen tief in den Schnee und warf ihn so hoch, dass alles rund um ihn wirbelte und die Schneeflocken in seinem Gesicht landeten. Moritz lachte aus vollem Herzen. Endlich, endlich war da, der heißersehnte Schnee!
Birgit Palasser ist für deinen Stil zuständig. Sei es als Ghostwriter, sei es in der Farb-, Stil- und Stylingberatung. Kurz gesagt: