Das Weihnachtswichteln
Christine Auer
Christine Auer
Schneeflocken tanzen vom Himmel und landen in meinem Gesicht. Mürrisch wische ich sie weg. Ihr werdet begeistert sein. Die Vorweihnachtszeit ist der perfekte Zeitpunkt für unsere Wien-Woche, hat Frau Müller vor ein paar Wochen mit glänzenden Augen gerufen.
… und jetzt sind wir hier – die gesamte 4A zu Weihnachten in Wien. Meine Begeisterung hält sich in Grenzen. Ich bin nicht so der Weihnachtstyp, mein Weihnachtsgefühl habe ich irgendwann in den vierzehn Jahren meines Lebens verloren.
Im Moment kommt es mir eher vor, als wäre ich in einem weihnachtlichen Disney-Traum. Es würde mich nicht wundern, wenn plötzlich fröhlich singende Menschen um die Ecke biegen und mir zurufen würden: „Felix Friesach, tanz mit uns!“
Ganz Wien glitzert und funkelt. Wahrscheinlich sieht man die Stadt bis ins Weltall leuchten.
Heute schauen wir uns den Christkindlmarkt vor dem Schloss Schönbrunn an. Schon vor dem eisernen Eingangstor werden wir von den immer gleichen Weihnachtsliedern beschallt. Aber am schlimmsten sind die verschiedenen Gerüche, die sich in meiner Nase zu einer unerträglichen Mischung verbinden – Zuckerwatte, Lebkuchen und jede Menge Knoblauch, der hier dick auf Kartoffelpuffer und Langos gestrichen wird.
Neben meinen Freunden Olli und Malik trotte ich hinter Frau Müller und den anderen den Kiesweg entlang bis zu dem großen Baum, der vor dem Schloss in die Höhe ragt. Die Lichterketten an seinen Zweigen wackeln im Wind auf und ab. Ich überlege, wo er wohl noch vor ein paar Wochen gestanden ist.
Wir steuern geradewegs auf eine Bühne zu, die unter dem Christbaum aufgebaut ist. Eine Musikgruppe mit weihnachtlichen Kostümen packt gerade ihre Blasinstrumente aus. Frau Müllers Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. „Felix, hast du zugehört?“ Als ich meinen Namen höre, hebe ich den Kopf. Keine Ahnung, was sie gerade gesagt hat. Trotzdem nicke ich. Sie schenkt mir ein ungläubiges Lächeln. „Du musst noch einen Zettel ziehen.“ Auffordernd hält sie mir einen Stoffbeutel hin. Das Engerl-Bengerl-Spiel! Das hatte ich schon verdrängt. Ich seufze. Malik stößt mir den Ellbogen in die Seite. „Na mach schon, ist doch witzig.“ Ich stecke meine Hand in den Beutel und ziehe einen sorgfältig gefalteten Zettel heraus. Ohne ihn zu öffnen, lasse ich ihn in meiner Jackentasche verschwinden. Zufrieden fährt Frau Müller fort: „Ihr habt jetzt eine Stunde Zeit, um ein kleines Weihnachtsgeschenk für die Person zu finden, deren Namen ihr gezogen habt. Heute Abend machen wir die Übergabe. Wir treffen uns also in einer Stunde wieder hier. Viel Spaß!“
Ich werde die nächsten fünf Minuten damit verbringen, den erstbesten Kitsch zu kaufen und mich dann mit Olli und Malik beim Langos-Stand treffen. Ich winke meinen Freunden zu, dann tauche ich in den Strom ein, der sich an den Ständen vorbeischiebt. So muss es sich anfühlen, wenn man als Fisch mitten in einem Fischschwarm treibt. Vorsichtig fingere ich den zerknitterten Zettel aus meiner Hosentasche und falte ihn auseinander. „Leni“ steht dort in schnörkeliger Schrift. Statt einem Punkt hat sie ein kleines Herz auf das i gesetzt. Wie kindisch. Das hat sie schon in der Volksschule so gemacht. Früher war sie echt okay. Ich habe jeden Dienstag bei ihr zu Mittag gegessen. Aber seitdem ist viel Zeit vergangen. Jetzt hängt sie nur noch mit Ella und Kai ab und fühlt sich am wohlsten, wenn sich alles um sie dreht. Jedes Mal, wenn ich an ihr und ihrem Hofstaat vorbeigehe, werfen sie mir abschätzige Blicke zu. Zum Glück ist mir das völlig egal.
Ich treibe vorbei an Krippenfiguren, Spielzeug, Christbaumkugeln und Lebkuchenherzen. Plötzlich steigt mir der Geruch von verbranntem Holz in die Nase. Neugierig schaue ich mich um. Etwas abseits steht eine Holzhütte, bei der alle möglichen Dinge aus Holz verkauft werden. In kleinen Körben liegen runde Holzscheiben, Anhänger und auch Türschilder. Daneben bearbeitet ein Mann mit einer bunten Filzmütze gerade mit einem Lötkolben eine Holzscheibe. Langsam schlendere ich hinüber. Als mich der Mann bemerkt, sieht er auf und lächelt mich an. „Such dir ein Holzstück und ein Motiv aus und ich brenne es dir sofort. Inklusive einem Namen, wenn du willst.“ Er deutet mit dem Kopf auf einen Ordner. Ich lasse meinen Blick über die verschiedenen Motive schweifen. Plötzlich stocke ich – vor mir liegt das perfekte Geschenk für Leni. Ich zögere, der Preis für einen kleinen Anhänger passt genau zu dem Budget, das wir für die Wichtelgeschenke ausgemacht haben. Schließlich frage ich: „Kostet eine Gravur extra?“ Der Mann schüttelt den Kopf. „Alles inklusive.“
Ich fische einen Holzanhänger aus einem der Körbe. „Passt da eine Hundepfote drauf und ein Name?“ „Klar.“ Das Holz wird unter dem Lötkolben dunkel und eine Pfote erscheint. Dann brennt der Mann den Namen Luna in den Anhänger. Plötzlich spüre ich die warme Schnauze von Luna an meiner Hand. Luna war Lenis Golden Retriever. Sie hat uns schwanzwedelnd begrüßt, wenn wir gemeinsam von der Schule kamen, hat meine Schuhe und Socken zerkaut und mir übers Gesicht geschleckt, wenn sie spielen wollte. Als Luna gestorben ist, habe ich tagelang geheult.
Ich bezahle und verstaue die braune Papiertüte vorsichtig in meiner Jackentasche. Plötzlich kann ich es nicht mehr erwarten, bis Leni ihr Geschenk auspackt.
Olli und Malik warten grinsend vor dem Langos-Stand auf mich. „Na, hat doch länger gedauert. Hast du eine goldene Christbaumkugel gekauft?“
Ich boxe Malik auf den Oberarm und ziehe eine Grimasse. „Das ist ein Geheimnis. Schließlich möchte ich dir die Überraschung nicht verderben.“ Malik wird blass um die Nase. „Du hast nicht im Ernst mich gezogen, oder? Und bitte sag mir, dass du mir keine Christbaumkugel schenkst!“ „Wer weiß …“ Grinsend schnappe ich mir ein Stück von seinem Langos.
Die Heimfahrt zum Hotel zieht sich ewig. Ich betrachte die Lichterketten. Eigentlich sieht es ganz nett aus, doch irgendwie weihnachtlich mit dem ganzen Schnee und den Lichtern.
Endlich sind wir in der Hotellobby. Frau Müller bittet uns, alle Geschenke mit dem Namen der beschenkten Person zu beschriften und in eine große Schachtel zu legen.
Ich bemerke erst, dass mein Fuß nervös auf und ab wippt, als Olli mich anstarrt. Sofort strecke ich die Beine von mir und versuche möglichst gelangweilt auszusehen. In diesem Moment nimmt Leni die braune Papiertüte aus der Schachtel. Vorsichtig zieht sie den Klebestreifen ab und holt den Anhänger heraus. Einen Moment starrt sie ihn fassungslos an. Dann hebt sie eine Hand und wischt sich über die Wange. War das eine Träne? Ihr Blick sucht meinen. ‚Danke!‘, formen ihre Lippen.
Wärme breitet sich in mir aus. Da ist es wieder, mein Weihnachtsgefühl. Als würde mich eine warme Decke von innen wärmen.
Christina Auer ist
Psychologin
Juristin
Kinder- und Jugendbuchautorin
Diplomierte Resilienztrainerin