Orangen im Nichts
Birgit Palasser
Birgit Palasser
Langsam rinnt der Saft über seine Finger, kühl und klebrig. Er dürfte die Orange gar nicht in seinen Händen halten, denn die Kisten werden abgewogen und jedes Kilo kontrolliert. Als er sie nun schält, steigt ihr frischer Duft in seine Nase. Abdi schließt die Augen. Der Geruch verführt seine Gedanken. Er wünscht sich, in der Sonne zu sitzen und das Lachen seiner Kinder zu hören. Die Sehnsucht nach Wärme und seiner Familie wird immer stärker.
Abdi öffnet die Augen, sieht auf die überreife Orange, auf seine zittrigen Hände und den Saft, der sich ausbreitet. Er neigt seinen Kopf und schleckt an den Fingern. Auf seiner Zunge entfaltet sich das süße Aroma; eine Geschmacksexplosion. Schnell schält er die Frucht und lässt eine Spalte nach der anderen in seinem Mund verschwinden. Er kaut und schluckt hastig. Dann zerkleinert er die Schale und lässt sie unter seinem Kopfpolster verschwinden. Er will keine Spuren hinterlassen.
Draußen regnet es, das Zeltdach ist längst durchnässt und am Boden bilden sich die ersten Rinnsale. Abdi fröstelt es. Feuer zu machen, ist unmöglich. Es blitzt und donnert, in der Nähe kracht es laut. Neugierig öffnet er den Reißverschluss seines Zeltes und wirft einen Blick nach draußen. Ein heftiger Wolkenbruch. Die Äste biegen sich im Wind und eine Böe verfängt sich im Zelt. Abdi hält es mit beiden Händen fest. Das Gewitter hat ihn überrascht. Er konnte seine Feuerstelle nicht rechtzeitig schützen. Der Regen prasselt auf den Topf, er füllt sich langsam mit Wasser. Abdi hat allerdings nichts, was er darin kochen könnte. Seine Vorratskiste ist leer. Schon seit einigen Tagen.
Langsam wird es finster, der Regen lässt nach. Es ist kalt. Abdi zieht seine Decke fester um die Schultern und ein flaues Gefühl breitet sich in ihm aus. Hunger, Einsamkeit, Ausweglosigkeit. Er legt sich zur Seite und bettet seinen Kopf auf das Kissen. Es ist feucht. Schmutzig. Er riecht die Orangenschalen und seine Gedanken führen ihn auf die Plantage; er spürt die harten Gurte des Korbes, der mit jeder Orange schwerer wird. Pro Kilo wird bezahlt. Aber nur, wenn sie ihn am Morgen auf den LKW steigen lassen. Heute wurde er nicht ausgewählt. Vielleicht morgen. Ohne Papiere bleibt es schwer. Er ist keine fixe Arbeitskraft. Geld für die Heimreise hat er nicht. Keines für eine Unterkunft im Dorf. Auch keines für eine warme Mahlzeit. In Süditalien, im Wald, ein kaputtes Zelt, eine gestohlene Orange: Abdis Traum von einer besseren Zukunft ist schon lange zerplatzt.

4. Dezember – Großmutters Backstube