Mias Traum

Ruth Kaiser

Nach einem geselligen Abend mit ihren Freunden kommt Mia beschwingt nach Hause. Sie setzt sich auf die Couch, gönnt sich noch ein Gläschen Wein, im Hintergrund erklingt Jazzmusik, während sie den Abend Revue passieren lässt. Die Gespräche mit ihren Herzensmenschen inspirieren sie immer sehr. Bei diesem tiefsinnigen Austausch erfährt sie Überraschendes und Neues über ihre Freunde. Heute stand ein besonders spannendes Thema im Mittelpunkt ihres Abends. Es ging um die Träume und Ziele, die jede und jeder von ihnen so hat. Ihr wurde dabei bewusst, dass sie sich selbst schon länger nicht mehr mit ihren eigenen Wünschen beschäftigt hat. Das will sie bald nachholen. Doch nun ist es an der Zeit,  ins Bett zu gehen und Ruhe zu finden. Sie nimmt einen letzten Schluck von ihrem Glas Wein und geht zufrieden schlafen.

Rasch fällt sie in einen tiefen Schlaf und fängt kurz darauf an, zu träumen. In ihrem Traum findet sie sich auf einem riesig großen Anwesen wieder. Es sieht haargenau so aus, wie sie es sich als kleines Mädchen immer in den buntesten Farben ausgemalt hat. Inmitten eines hektargroßen Gartens steht ein Haus, das einem Schloss gleicht und atemberaubend ist. Neben wunderschönen Blumen, Obstbäumen und einem Swimmingpool gibt es auch eine weitläufige Pferdekoppel. Darauf stehen zwei Pferde, eine rotbraune Vollblutstute und ein weißer Hengst. Ihr Blick schweift weiter, bis er an einer weiblichen Gestalt in Reitmontur hängen bleibt. Diese lehnt am Gatter der Koppel und beobachtet die Rösser. Es dürfte sich um ihre beiden vierbeinigen Lieblinge handeln. Doch ihre Schultern sind gesenkt, und aus ihrer gesamten Körperhaltung lässt sich schließen, dass etwas nicht stimmt, dass sie traurig ist. Bei genauerem Hinsehen kommt ihr die Person seltsam vertraut vor. Als diese sich umdreht, erkennt Mia mit einem Schlag: Sie blickt auf sich selbst. Für einen Augenblick ist sie irritiert. Im nächsten Moment wird sie abgelenkt. Aus den Augenwinkeln nimmt sie wahr, wie sich eine männliche Gestalt der Mia am Zaun nähert. Sie blinzelt zweimal und erkennt dann, dass es ihr Traumprinz ist. Er hat schulterlanges gewelltes Haar, welches sich auf und ab bewegt, wenn er geht. Sein Gesicht erinnert an Chris Hemsworth, einen bekannten Schauspieler, dessen Poster Mia als Jugendliche in ihrem Zimmer hängen hatte und das sie jeden Tag anschmachtete. Die Mia aus dem Traum geht auf ihn zu. Als er das wahrnimmt, sieht er sie ausdruckslos, fast wie versteinert an. Sie hingegen kann sich nicht sattsehen an ihrem Auserwählten, sieht ihn mit großen Augen und geröteten Wangen an und ignoriert seine offensichtliche Gleichgültigkeit. Während Mia die Szenen vom Prinzen und sich selbst weiter beobachtet, fühlt sie sich sehr unwohl in ihrer Haut. Sie kann spüren, dass das Leben der zwei nach außen perfekt zu sein scheint. Wenn man an all den Wohlstand denkt, stellt man sich Glück im Dauerschleifemodus vor. Vermutlich reitet das Paar mehrmals die Woche auf seinen Pferden aus und muss sich keine Sorgen ums tägliche Brot machen. Doch während Mia diese Sequenzen sieht, empfindet sie keine Glückseligkeit. Das lässt sie unruhig werden. Sie beginnt, sich im Bett herumzuwälzen.

Plötzlich beginnt der Boden zu beben, das Bild bekommt immer größere Risse, bis es schließlich zerspringt. Danach wird es dunkel um sie herum und Mia weiß nicht, wie ihr geschieht. Sie dreht sich von einer Seite zur anderen, Schweißperlen bilden sich auf ihrer Stirn und sie beginnt, leise zu wimmern. Es geht ein kurzer Ruck durch das Bild, eine neue Einstellung erscheint. Schlagartig sieht sie die Mia aus der vorigen Traumsequenz nun in einem dunklen Raum wieder. Zusammengekauert, die Arme um ihre Knie geschlungen, sitzt sie auf einem kalten Steinboden, vermutlich in einem Keller und zittert vor sich hin. Die Finsternis gepaart mit der Kälte ist fast unaushaltbar. Sie verspürt Angst, sehr große Angst. Für Mia sind diese Szenen so real, sie möchte am liebsten dem Traum entfliehen, doch es gelingt ihr nicht auf Anhieb. Immer heftiger zuckt sie und bewegt sich auf ihrer Matratze. Ein lauter Rumms durchdringt die Nacht und reißt Mia aus dem Schlaf. Vor lauter Schreck ist sie aus dem Bett gefallen. Als sie vorsichtig die Augen öffnet, erkennt sie die schemenhaften Umrisse der Möbel in ihrem Schlafzimmer. Verwirrt und zugleich erleichtert atmet sie auf: Es war nur ein Traum. Verschlafen erhebt sie sich langsam vom Boden und steigt zurück in ihr Bett und kuschelt sich unter ihre vorgewärmte Bettdecke. Langsam beruhigt sich auch ihr rasender Puls. Nach einigen Minuten des Innehaltens wagt sie es, wieder vorsichtig ihre Augen zu schließen. Alles scheint ruhig um sie herum und in ihr. Sie fühlt sich wieder sicher. Das lässt sie für die restliche Nacht in einen traumlosen Schlaf fallen.

Vom Vogelgezwitscher im Hof wird sie am nächsten Morgen geweckt. Die Sonne scheint sanft durch die Vorhänge und lädt zu einem wunderschönen Frühlingstag ein. Mia liebt diese Jahreszeit. Normalerweise springt sie fidel und fröhlich aus dem Bett. Doch heute merkt sie, dass ihr alles weh tut. Sie fühlt sich völlig gerädert. Der Traum der letzten Nacht kommt wieder in ihre Erinnerung; er steckt noch in ihren Gliedern, so wirklich schien alles. Mit einem starken Kaffee in ihren Händen, setzt sie sich wie jeden Tag gemütlich auf die Couch. Mia liebt ihr morgentliches Ritual mit dem Journaling, doch heute hat sie keine Lust darauf. Sie kann nicht aufhören, an die einzelnen Szenen aus ihrem Traum zu denken. Da war die erste Einstellung mit dem Haus, den Pferden und dem Prinzen. Das waren eindeutig Teile ihres Kindheitstraumes. Doch heute fühlt es sich nicht mehr stimmig für sie an. Möglicherweise hat sie deshalb auch von dem dunklen Gemach geträumt, wo sie sich einsam und gefangen fühlte.

Um aus dem Gedankenkarussell auszusteigen, beschließt Mia einen Spaziergang zum Seerosenteich zu machen. Vielleicht würde sie dort wieder zur Ruhe kommen, wie es meistens der Fall ist. Dort ist ihr Kraftort, ihr ganz persönlicher Rückzugsort. Sie schlüpft in ihre Sneakers, zieht sich ihre Jeansjacke an und es geht los. Nach einem kurzen Fußmarsch gelangt sie zu ihrem Lieblingsort. Bereits in dem Moment, in dem sie auf der Bank am Ufer des Teiches Platz nimmt, merkt sie, wie sich ihr Körper zu entspannen beginnt und sie wieder freier durchatmen kann.

Mia lässt ihren Blick über den geliebten Teich schweifen. Es scheint, als hätten sich seit ihrem letzten Besuch die Seerosen auf der Oberfläche verdoppelt. Sie kann sich nicht sattsehen an dieser Pracht und ist dankbar für jede einzelne Blüte und jedes Seerosenblatt.

Sie atmet ruhig ein und aus, schließt die Augen, scannt ihren ganzen Körper und spürt, wie sich ihre Muskeln nach und nach entspannen.

Als sie ihre Augen wieder öffnet, kehrt die Erinnerung an die nächtlichen Geschehnisse zurück. Was hatte das zu bedeuten? Was wollte ihr dieser Traum sagen? Und was hat sie in ihrem Leben erreicht, wovon sie als junges Mädchen immer geträumt hatte?

Mia ist sich bewusst, dass ihre Gefühle oft Achterbahn fahren. Sie sieht sich als Versagerin, weil sie keinen ihrer Jugendträume verwirklichen konnte. Statt in einem Schloss wohnt sie in einer kleinen Mietwohnung, statt in einem schnittigen Auto fährt sie mit einem klapprigen Fahrrad durch die Gegend, und von dem perfekten Prinzen ist auch weit und breit nichts zu sehen. Im Gegenteil: Mia wurde von ihrem letzten Freund betrogen und hat inzwischen die Hoffnung aufgegeben, dass es den richtigen Mann für sie überhaupt gibt.

Während sie weiter ihren Gedanken nachhängt, erinnert sich Mia daran, wie sie als Teenagerin noch ohne Einschränkungen vor sich hingeträumt hat. Damals konnte sie stundenlang dasitzen und sich ihren Träumen hingeben. Mit ihren Freunden sprach sie in dieser Zeit oft über ihre geheimen Wünsche und Träume, und es war interessant und spannend zu hören, wie unterschiedlich ihre Lebensziele waren. Ein Freund wollte wie sein Papa ein eigenes Unternehmen gründen und reich werden. Ihre beste Freundin Anna, eine talentierte Schwimmerin, träumte von einer Olympiamedaille. Und was ihr besonders im Gedächtnis geblieben ist, war ein Junge aus der Parallelklasse. Der wollte wie Paul Newman am Broadway spielen. Er trug stets einen Schnipsel mit einem Bild von seinem Idol im Portemonnaie. Mia hingegen träumte von einem schlossähnlichen Haus, eigenen Pferden und ihrem Prinzen. Das war nicht nur ihr persönlicher Tagtraum, sondern ein wiederkehrender Traum in der Nacht. Selbst als Erwachsene besuchte er sie wiederholt nachts.

Lange rätselte sie, warum derselbe Traum sie immer wieder heimsuchte. Mittlerweile konnte sie entschlüsseln, wofür die drei Symbole – Pferd, Prinz und Schloss – standen.  Es waren  Sinnbilder ihrer unerfüllten Wünsche: Geborgenheit, Liebe und ein schönes Zuhause. Das war etwas, das sie in ihrer Kindheit nicht kannte.

Während sie weiter ihren Gedanken nachhängt, fragt sie sich leise, ob sie glücklich ist. Als sie in der letzten Nacht die Mia im Traum war, konnte sie richtig spüren, wie gefangen diese in ihrem Leben war. Von außen betrachtet schien sie alles zu haben, wovon man träumen konnte – ein luxuriöses Haus, Besitz und einen Mann. Doch von wahrem Glück und Leichtigkeit hatte dieses Leben nichts. Ihr wird klar, dass es nicht alles sein kann, jeden Tag das gleiche zu erleben und keine richtige Aufgabe zu haben.

Oft weiß auch sie nicht, wie sie ihr weiteres Leben gestalten möchte. Doch anders als die Mia, die im Traum gefangen ist, hat sie jeden Tag aufs Neue die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wie sie leben will. Sie nimmt sich vor, in Zukunft ihren Reichtum – ihre Freunde, ein gemütliches Zuhause und die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln – bewusst zu schätzen. Außerdem möchte sie offen bleiben für eine neue Beziehung, bei der es nicht nur auf das Äußere ankommt, sondern darauf, jemanden an ihrer Seite zu haben, mit dem sie ehrliche, tiefgründige Gespräche führen kann. Wo sie ganz sie selbst sein kann. Gemeinsam mit diesem wundervollen Partner möchte sie etwas aufbauen. Darüber hinaus möchte sie sich wieder lebendig fühlen; nicht nur funktionieren, sondern jeden Tag mit Freude und Liebe erleben. Sie seufzt befreit auf und denkt sich: „Das klingt traumhaft und nie wieder werde ich meinem Kindheitstraum nachweinen. Auf keinen Fall. Ich bin dankbar für diesen ungemütlichen Traum, er hat mich wachgerüttelt.“ Mia hat die Botschaft verstanden, dieses Traumerlebnis war nicht nur Fantasie. Vielmehr möchte es ihr wie ein Kompass die Richtung zeigen.

Bei diesen Gedanken atmet sie abermals hörbar aus. Ein zufriedenes Lächeln macht sich auf ihrem Gesicht breit. Sie sinniert weiter: „Manchmal braucht es nur ein paar Minuten in der Natur, um sich wieder zu erden. Wie schön, dass ich hierherkommen kann, um meine Gedanken zu ordnen.“ Mia verspricht sich selbst, in Zukunft noch offener für die Wunder des Lebens zu sein. Es ist alles möglich, es ist schön zu träumen. Es geht nicht darum, stur an Visionen festzuhalten. Im Gegenteil, es ist ein Zeichen von Wachstum, sich von Veränderungen inspirieren zu lassen. Mia weiß nicht, woher plötzlich diese Erkenntnisse kommen, aber darüber möchte sie sich nicht den Kopf zerbrechen. Sie mag ihre neue Aufgeschlossenheit und verspricht sich selbst, mehr auf ihre innere Stimme zu hören. Viel zu lange hat sie an der Vorstellung, wie ihr Leben verlaufen soll, festgeklammert. Das erwies sich als hinderlich.

Mia weiß nicht, wie lange sie schon hier saß und reflektierte. Die Sonne steht mittlerweile sehr tief und ist im Begriff, am gegenüberliegenden Ufer unterzugehen. Das restliche Tageslicht wirft einen goldenen Strahl auf die Seerosen, wie ein sanfter Scheinwerfer. Ja, die Zeit am Seerosenteich ist magisch und es erfüllt sie mit Dankbarkeit, dass sie stets hierher zurückkehren kann.

Mia spürt nochmals in sich hinein und nimmt wahr, wie leicht sich jetzt alles anfühlt, der Druck auf der Brust war gewichen. Sie ist dabei, sich aus den Fängen der Vergangenheit zu befreien. Darauf darf sie stolz sein und nun voller Vertrauen neue Pfade beschreiten. Noch ein letztes Mal blickt sie auf die wunderschönen Seerosen, dann dreht sie sich um und macht sich leichten Herzens auf den Heimweg.

Träume verleihen uns Flügel und tragen uns dorthin, wo wir selbst über uns hinauswachsen können – also lass nicht zu, dass man sie dir stutzt.

Wie sieht es mit deinen Träumen aus?

Hält dich etwas davon ab, deinen Träumen Flügel zu verleihen? Und wenn ja, was genau?

Ruth Kaiser ist Absolventin des Ghostwriter-Lehrgangs, Autorin und Resilienztrainerin.