Weihnachten ohne ihn
Ursula Rathensteiner
Ursula Rathensteiner
Triggerwarnung Mental Health
„Bin gleich wieder da! Muss nur Rich wegen der Englischschularbeit dringend etwas fragen.“ Mario, der ihn auf die Krampus-Party der coolen Leute aus der Achten geschleppt hatte, drängte sich durch die Menge, wurde bald von ihr geschluckt. Alex blieb allein zurück. Jetzt war er gezwungen, sich genauer umzusehen. Vielleicht hatte er ja Glück und würde jemanden finden, der sich mit ihm, dem schrägen, schüchternen Jungen mit der schwarzen Brille, abgab. Große Hoffnungen hatte er nicht. Vor allem nicht, weil er in einem völlig fremden Revier war. Als Siebtklässler musste man schon jemanden kennen, um sich bei Feiern der Abschlussklassen blicken lassen zu können.
An diesem Abend war sein großer Bruder seine Eintrittskarte. Der hatte ihn allerdings sich selbst überlassen. Eigentlich wollte Alex nicht starren. Trotz Brille war es aber schwierig, sich unter den unzähligen angeheiterten Gästen, nicht wenige davon tanzwütig, einen Überblick zu verschaffen. Sein Blick blieb an einer Gruppe Mädels hängen, die nur wenige Meter entfernt von ihm in einer Ecke beisammenstanden. Genauer gesagt, sah er eigentlich nur eines davon: Anna.
Sie fiel auf, nicht nur, weil das für ihn seit dem ersten Tag vor zwei Jahren, als sie als Neue zu ihm in die Klasse gekommen war, so war. Sie wirkte an diesem Abend fast genauso fehl am Platz wie Alex, wenngleich nicht auf den ersten Blick. Ihr grüner Pulli schimmerte, glänzte genauso wie die Kleider ihrer Freundinnen. Ab und zu führte sie auch ihren Becher mit dem süßlichen Orangenpunsch zum Mund. Langsam, fast gezwungen. Manchmal wurde ihr Blick leer, teilnahmslos. Im nächsten Augenblick hatte sie sich wieder halbwegs im Griff, ihre Lippen formten sich zu einem aufgesetzten Lächeln. Es schien sie Anstrengung zu kosten, ihren Freundinnen zu lauschen, nicht allzu sehr aufzufallen, den anderen nicht den Abend zu verderben.
Alex konnte seinen Blick nicht von Anna wenden. Das konnte er schon kaum, wenn sie wie üblich, früher üblich, mit ihren Freundinnen scherzte oder mit einigen der weniger schüchternen Klassenkameraden tanzte, strahlte und gute Laune versprühte. An diesem Abend war es völlig unmöglich. Diese eigenartige Atmosphäre, die Anna umgab, die auch seit einigen Wochen im Unterricht immer wieder aufblitzte, ließ ihn nicht los. Seit sie nach längerer Abwesenheit nach dem Tod ihres Bruders wieder in die Schule gekommen war. Ein Unfall, hatte es geheißen. Begräbnis nur im engsten Familienkreis. Keine weiteren, genaueren Informationen, nur Gerüchte.
Am liebsten hätte er Anna an diesem Abend auf der Party angesprochen und gefragt, ob es ihr nicht gut ginge. Dann hätte er eine Gesprächspartnerin und einen guten Grund, auf der Krampus-Feier zu bleiben. Allerdings hatte er sich das bis jetzt nicht so richtig getraut. Über viel mehr als „Hallo“ war er außerhalb des Unterrichts nicht hinausgekommen. Das würde so bleiben. Alex hatte einfach nicht den Mut, auf seine Klassenkameradin zuzugehen. Er beschloss, die Party zu verlassen. Er würde niemandem abgehen. Schon gar nicht Anna, die ihn sicher nicht einmal bemerkt hatte. Natürlich würde ihn Mario damit aufziehen, wie uncool er war. Typisch großer Bruder.
Das war doch … sein plötzlich dahin galoppierender Herzschlag lenkte Alex gehörig ab. Ka-wum, ka-wum, ka-wum. Ungewohnt, unangenehm fast. Ka-wum. Drängend, drückend. Und das schon vor dem Horrorfilm, der dann dazu gedacht war, Angst und Schrecken im gemütlichen Kinosaal spüren zu lassen, zur Unterhaltung. Erst nach einigen Augenblicken hatte sich sein Herz wieder auf einen Rhythmus eingependelt, der zwar immer noch schneller war als üblich, aber immerhin nicht ganz unbekannt. Vor schwierigen Schularbeiten war es ähnlich. Oder wenn sie den Raum betrat. Dank der Ablenkung war er sich trotz Brille nicht sicher, ob er seinen Augen überhaupt trauen konnte. Da stand sie, als dritte in der Schlange zum Kinosaal. Die langen braunen Haare, ihre Augen fast im selben Ton und ihre Stupsnase, die erkannte er doch deutlich. Das musste sie sein. Anna. Aber von ihren Freundinnen, die sie fast überallhin begleiteten, keine Spur. Konnte sie es überhaupt sein?
Nein. Sie konnte es nicht sein. Nicht hier. Er musste sich getäuscht haben. Als der Kinosaal geöffnet wurde, hatte sich sein Herz endlich beruhigt. Die weihnachtliche Horrorkomödie tat das Ihrige.
Als Alex nach dem Nachspann den Saal verließ, tippte ihm plötzlich jemand von hinten auf die Schulter. Er zuckte zusammen, überrascht, erschrocken eigentlich. Einen Schrei konnte er vermeiden, das wäre sogar für seine Verhältnisse extrem peinlich gewesen.
„Oh, sorry. Das war blöd von mir, so nach einem Horrorfilm.“ Ein nervöses Lachen.
„Ist … ist okay“, stammelte Alex und hoffte, dass Anna das laute Ka-wum wirklich nicht hören konnte. Für ihn fühlte es sich ohrenbetäubend an.
„Wusste gar nicht, dass du auf Horror stehst. Ich nämlich auch.“
„Du auch …“
Alex konnte nur ungläubig wiederholen, was ihm Anna da erzählte. Anna. Er betrachte sie genauer. Sie lächelte. Sie lächelte ihn an. Trotzdem war da noch etwas in ihrem Gesicht, etwas, das ihr viel von ihrer Lebendigkeit nahm.
„Ja, ich liebe Horror. Seit …“
Anna brach mitten im Satz ab, biss sich auf die Zunge.
„Wie fandest du ‚Better Watch Out‘?“, fragte sie stattdessen.
Eine Kurzkritik sprudelte aus Alex heraus. An einigen Stellen nickte Anna, zwei- oder dreimal, das wusste er nachher nicht mehr so genau, lachte sie sogar. Allerdings war das Gespräch bald zu Ende, denn die beiden mussten sich auf den Heimweg machen. Es war mittlerweile etwas später geworden. Schule am nächsten Tag und so.
„Hey. Ähm. Ich muss irgendwie rauskommen, auf andere Gedanken kommen vielmehr. Ähm. Und. Ähm. Diese Woche gibt es ein Tim Burton Special. Ich habe mich gefragt, ähm, vielleicht magst du ja mit mir einmal hingehen. Natürlich nur, wenn du Lust hast.“
Anna war in der Pause zu Alex‘ Platz gekommen und hatte ihn vor allen anderen angesprochen. Sie hatte ihn angesprochen. Alex nickte, etwas heftig, was ihm sofort peinlich war. Ein „Ja“ brachte er auch noch über die Lippen. Es war einfach unglaublich, dass Anna Zeit mit ihm verbringen wollte. Mit ihm.
Anna wartete jedenfalls am Mittwochabend schon im Kino auf ihn. Und am Freitag stand der nächste Tim-Burton-Film am Programm. Beide liebten solche schrägen und manchmal düsteren Geschichten. Diese Leidenschaft entpuppte sich als praktischer Gesprächsmotor für den Jungen, der sonst viel zu schüchtern war, mit dem angehimmelten Mädchen zu sprechen. Auch Anna schien nach und nach weniger angespannt, weniger apathisch sogar. Wenn sie über die großartigen Kostüme sprach, über die beeindruckenden Bilder oder die Eigenheiten der Protagonisten, dann kam ein leises Lächeln in ihr Gesicht zurück. Zumindest für die wenigen Augenblicke, in denen sie sich mit Alex über das gemeinsame Interesse austauschte.
„Frohe Weihnachten!“ Alex hatte sich am letzten Schultag vor den Ferien endlich ein Herz genommen, den Anfang zu machen und Anna schöne Feiertage zu wünschen.
„Weihnachten wird beschissen.“
Alex stand etwas hinter Anna, konnte ihr Gesicht nicht sehen. Ihr Ausbruch, die Härte in ihrer Stimme, erschreckten ihn, wenn er ehrlich war. Da hob Anna ihren Kopf und drehte sich zu ihm um. Einige Tränen hatten sich in den Augenwinkeln gebildet, lautlose Tränen.
„Weihnachten wird beschissen“, wiederholte sie. „Weihnachten wird anders, anders und beschissen, weil David nicht mehr da ist. Einfach gegangen ist.“
Jetzt war es draußen, ihr Geheimnis. Und Alex verstand nicht. Das sah sie an seinem Blick. Okay, sie war unfair, denn sie hatte niemandem aus der Schule erzählt, was Ende Oktober wirklich passiert war. Nicht einmal ihren Freundinnen. Die Lehrer hatten ebenso nicht darüber gesprochen, das hatten sie Anna und ihrer Familie versprochen. Alex konnte also nicht wissen, warum sie war, wie sie war. Soviel die beiden in den vergangenen Wochen über Filme gesprochen hatten, was sich so gut angefühlt hatte wie sonst nichts seither, hatten sie sich einander nicht tiefer anvertraut.
„Was … wie?“
Anna machte Alex keinen Vorwurf, dass er nur hilflos neben ihr stand und unzusammenhängende Worte stammelte. Er war da und blieb da. Das allein war schon ungewöhnlich, unglaublich wichtig. Die beiden waren allein in der Klasse zurückgeblieben, die anderen schon auf dem Weg in die Ferien. Jetzt oder nie.
„David. David ist nicht mehr da zu Weihnachten. Das erste Weihnachten ohne meinen großen Bruder. Ich … allein der Gedanke daran tut so weh, dass er nicht mehr da ist. Uns verlassen hat, zurückgelassen hat. Freiwillig, kein Unfall.“
Alex stand da und wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Eigentlich war er überfordert, doch dann wurde ihm bewusst, dass sich Annas Gesichtszüge ein wenig entspannt hatten. Sie seine Gegenwart nicht scheute, im Gegenteil. Und ihm gerade offen anvertraut hatte, warum sie in letzter Zeit besonders traurig war. Ihm.
„Das tut mir leid. Ich wusste nicht. Wenn du darüber reden willst, bin ich für dich da.“
Mehr konnte er ihr in dem Moment nicht sagen, aber er meinte es so. Ohne es zu merken, hatte er einen Schritt auf sie zugemacht. Zaghaft, unbeholfen breitete er seine Arme aus, doch Anna drückte nur seine rechte Hand. Zu mehr war sie noch nicht bereit.
„Danke. Und wir werden sicher auch über Filme quatschen. Versprochen. Du weißt gar nicht, wie gut mir unsere Kinobesuche getan haben.“ Das Lächeln verdrängte ihre Traurigkeit nicht, aber es war da. Und echt.
„Danke, dass du da bist“, wiederholte Anna, um Alex klarzumachen, wie wichtig es für sie war, dass sie jemanden an ihrer Seite hatte, der ihren etwas eigenartigen, düsteren Geschmack teilte. Mit dem sie, zusätzlich zur Therapie, offen reden und lachen konnte.
PS: Der erste Kuss der beiden würde noch sieben Horrorfilme und viele tiefe Gespräche, auch über Annas Bruder, auf sich warten lassen. Aber er würde kommen. 44 Tage später – Alex hatte nachgerechnet. Anna würde wie meistens den ersten Schritt machen.
In schwierigen Situationen kann es helfen, sich Hilfe zu holen – es gibt einige Angebote wie „Rat auf Draht“ 147 oder die „Kids-Line“ 0800 234 123 (nachmittags) u.Ä. Viele sind auch online erreichbar.
Ursua Rathensteiner ist Autorin, Lektorin und Ghostwriter.