Der Gewinn
Sarah Ritt
Sarah Ritt
12. Dezember:
„ACHTUNG! SIE HABEN GEWONNEN! KLICKEN SIE HIER!!!!“ Ich seufzte. Schon wieder eine Spamnachricht, die durch den E-Mailfilter gerutscht war; niemand, der ein bisschen Ahnung vom Internet hatte, würde da wirklich draufklicken, oder? Ab in den virtuellen Papierkorb damit!
„ACHTUNG! SIE HABEN GEWONNEN! KLICKEN SIE HIER!!!!“ Langsam war ich genervt. Ich hatte den Absender der ersten Mail schon blockiert, jetzt kam das Ganze nochmal, von einer anderen Adresse, nicht mal 48 Stunden später.
„ACHTUNG! SIE HABEN GEWONNEN! KLICKEN SIE HIER!!!!“ Jetzt war es genug. Ich brauchte dringend eine neue Mailadresse. Die Vorweihnachtszeit war ohnehin schon stressig genug: Ich hatte, wie alle meine Geschwister, mindestens einen Job auf einem Weihnachtsmarkt angenommen, neben der Schule und am Wochenende, sonst würde sich das alles nicht ausgehen. Meine große Schwester konnte dieses Jahr nur ganz wenige Kurse auf der Uni machen, weil sie so viele Überstunden im Büro machte. Trotzdem wohnte sie noch bei uns zuhause, weil eine eigene Wohnung zu teuer war. Alles war zu teuer, zumindest war das mein Gefühl. Meine Eltern konnten beide nicht mehr arbeiten, sie kümmerten sich um den Haushalt, wenn sie nicht zu krank dafür waren. Dieses Jahr hatten wir uns ausgemacht, zumindest meinem jüngsten Bruder Weihnachtsgeschenk zu machen, indem wir mit ihm einen Streichelzoo besuchen würden, aber wir anderen hatten keinen Grund, zu feiern.
Eine neue Mail-Adresse hatte zum Glück das Problem mit den Spamnachrichten gelöst, aber ich hatte nicht einmal genug Zeit gehabt, mich damit weiter zu beschäftigen. Die Schule und die Arbeit am Weihnachtsmarkt, wo ich Bratkartoffeln verkaufte, kosteten mich all meine Kraft und Konzentration, aber zum Glück war das ja nach Weihnachten vorbei.
Ich konnte es nicht glauben: Heute, gerade als ich beginnen wollte, den Bratkartoffelstand zu schließen und endlich nach Hause zu gehen, tauchte eine alte Frau auf. Ich kann kein schmeichelhafteres Wort verwenden – sie war sicher über 80 und klein, mit frisch aufgeföhnten grauen Haaren und einer winzigen, schwarzen Handtasche, die so gar nicht zu ihrem roten Wollmantel passte. Sie kam zu mir und sah mich an, als hätte ich etwas falsch gemacht.
„Da bist du ja, mein Junge! Ich versuche seit Tagen, dich zu erreichen! Jetzt musste ich doch persönlich vorbeikommen, und das auf meine alten Tage!“ Sie strahlte mich übers ganze Gesicht an, griff in ihre Tasche und zog einen Umschlag heraus. „Das ist für dich und deine Familie. Macht euch einen schönen Tag, esst etwas Gutes und jeder soll ein kleines Geschenk bekommen, es ist schließlich Weihnachten!“ Sie zwinkerte mir zu und ließ mich verwirrt stehen.
Ich starrte ihr so lange nach, dass ich fast vergaß, in den Umschlag zu schauen. Und dann konnte ich es nicht fassen: Darin steckten Geldscheine, genug für all die Dinge, von denen sie gesprochen hatte – einen schönen Tag, ein gutes Essen und ein Geschenk für jeden. Aber was, wenn die Frau schon dement war und mir irrtümlich ihre ganzen Ersparnisse überlassen hatte? Ich rief die Polizei an, postete meine Geschichte online und erzählte allen in der Schule davon, aber niemand wusste, wer die Frau war, und niemand schien das Geld zu vermissen. Die Polizei rief an und meinte, wir könnten das Geld behalten, da die Summe nicht so hoch war, dass man annehmen musste, dass sie Teil einer Diebesbeute war. Es war wie ein Wunder, ein unglaublicher Zufall, eine so nette Tat, von einer völlig Fremden. Woher wusste sie, dass wir in Geldnot waren? Wer war sie überhaupt? Ich hoffte, eines Tages hinter dieses Rätsel zu kommen.
Und das, liebes Weihnachtsmann-Kommittee, ist der Bericht unserer ersten Testperson. Ich denke nicht, dass ich weiter ausführen muss, warum es eine Verschwendung von Zeit und Ressourcen ist, brave Kinder über dieses neumodische Internet zu erreichen. Nichts kann den Besuch von einem unserer Mitarbeiter – natürlich nur in der Adventzeit – ersetzen!
Sarah Ritt ist Autorin, Ghostwriter, Lektorin und Übersetzerin.