Das Weihnachtspuzzle
von Conny Sucher
von Conny Sucher
Als Magnus und Mette aus dem Zug ausstiegen, hing eine dicke Nebeldecke über der Stadt. Am Kopenhagener Hauptbahnhof herrschte um diese Tageszeit reges Treiben. Rasch verließen sie das Gebäude, in dem es brummte wie in einem Bienenstock. Nur ein paar Schritte waren es zum Tivoli, dem legendären Vergnügungspark, der sich jedes Jahr in einen traditionellen „hyggeligen“ Weihnachtsmarkt verwandelte.
Als sie das Gelände betraten, umhüllte das Pärchen sogleich ein berauschender Duft aus Gløgg und Lakrids. Anders als im Bahnhof rannten die Menschen hier nicht aufgeregt umher, vielmehr schlenderten sie. Sofort tauchten Mette und Magnus ganz und gar in die weihnachtliche Atmosphäre ein. Überall hingen glitzernde Weihnachtskugeln, es erklang weihnachtliche Musik und das grüne Reisig, das die Dächer der hölzernen Verkaufsstände schmückte, rundete das perfekte Bild ab. Während sie von Stand zu Stand bummelten, fasste sich Mette immer wieder auf ihren kugelrunden Bauch. Nicht mehr lange, bald war es so weit: Ihr Kind sollte in wenigen Wochen das Licht der Welt erblicken. Der Arzt meinte sogar, dass es ein Christkind werden könnte.
Auch wenn jeder Schritt für Mette mittlerweile beschwerlich war, wollte sie sich den Besuch am Weihnachtsmarkt nicht entgehen lassen. Magnus und sie nutzten den alljährlichen Weihnachtsbummel immer dazu, Geschenke zu besorgen und sich mit traditionellen dänischen Leckereien einzudecken, die sie dann gemeinsam auf dem Sofa verputzten.
Als sie an einem Stand vorbeikamen, der unzählige flauschige Teddybären darbot, hielt Mette inne: „Was hältst du davon, wenn das erste Weihnachtsgeschenk für unseren kleinen Jungen vom Tivoli stammt – das wäre doch passend, oder?“ Magnus schmunzelte und gemeinsam entschieden sie sich kurzerhand für einen violetten Teddybär, dessen Fell so flauschig wie Watte war. Nachdem Magnus das Kuscheltier bezahlt hatte, reichte er es Mette, die es mit strahlenden Augen an ihre Brust drückte. Seit sie wussten, dass sie Eltern werden würden, empfanden sie eine unfassbar starke Liebe – nicht nur füreinander, sondern auch für das kleine Geschöpf, das bald in ihr Leben treten würde.
Da es schon spät war und der Heimweg einiges an Zeit in Anspruch nahm, machten sie sich auf den Weg in Richtung Ausgang. Als sie schon beinahe den Markt verlassen hatten, blieb Magnus ruckartig stehen. Ein Verkaufsstand erregte seine Aufmerksamkeit: Anders als die anderen Stände, war dieser nicht festlich geschmückt. Die Holzhütte wirkte beinahe fehl am Platz. Hinter dem Verkaufstresen stand eine alte hagere Frau, ihr steingraues Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre eisblauen Augen taxierten Magnus regelrecht. Interessiert musterte Magnus die dargebotenen Waren. Der Verkaufstresen war mit schwarzem Samt ausgelegt. Darauf stapelten sich unzählige schwarze Holzboxen. Auf jede dieser Boxen hatte jemand in weißer Schrift das Wort „Julekalender“ geschrieben.
Ein Adventkalender? Sofort war Magnus‘ Neugier geweckt. Auch, wenn er schon lange erwachsen war, wollte er nie auf einen Adventkalender verzichten. Da er heuer noch keinen für sich besorgt hatte, wurde es höchste Zeit, sofern er sich nicht mit einem einfachen Schokoladenkalender zufriedengeben wollte. Mit Mette an der Hand schritt er wie hypnotisiert auf die Frau zu: „Was für eine Art von Kalender ist das?“, fragte Magnus. „Ein Puzzle-Kalender – für jeden der 24 Tage gibt es ein Puzzleteil. Am Ende ergibt das Puzzle ein Bild. Es zeigt, wie die Person, die das Puzzle gemacht hat, ihren Weihnachtsabend verbringen wird. Es kann die Zukunft vorhersehen.“, erklärte die Alte. Magnus traute seinen Ohren nicht.
Mette schien die Szene nicht geheuer: „Bitte lass uns gehen, ich bin müde“, flüstert sie ihrem Mann zu. Doch Magnus war gefesselt: „Ich nehme einen!“ Schnell kramte er die 150 Kronen, die die Alte verlangte, aus seiner Hosentasche. „Suchen Sie sich eine Box aus!“, forderte sie ihn auf. Da alle Boxen ident aussahen, nahm Magnus die erstbeste, die vor ihm stand.
Kaum waren sie daheim angekommen, öffnete Magnus voller Anspannung die mysteriöse Box. Sie enthielt tatsächlich einen Haufen Puzzleteile. Doch sofort machte sich Ernüchterung breit: Die Puzzleteile waren komplett schwarz – kein Bild war zu erkennen. Nur auf der Rückseite fand er kleine Zahlen in weißer Schrift. 1- 24. Verwirrt schloss er die Box wieder und legte sie beiseite. „Du bist wahrscheinlicher einer Trickbetrügerin auf den Leim gegangen“, scherzte Mette. „Das Puzzle ist einfach schwarz, du wirst rein gar nichts darauf erkennen.“, lachte sie. Magnus wollte sich seine Niederlage nicht eingestehen, und als es endlich Dezember wurde, fügte er jeden Tag ein Teil nach dem anderen zusammen.
Wie durch Zauberhand begannen sich die zusammengesetzten schwarzen Puzzleteile zu verfärben. Zuerst erkannte er ihr Wohnzimmer, dann den Weihnachtsbaum, den sie gekauft hatten. Der Baum auf dem Puzzle trug doch tatsächlich Mettes liebsten Weihnachtsbaumschmuck. Jedes Jahr dekorierten sie den Baum gleich – mit dem Schuck, den Mette von ihrer geliebten Großmutter geerbt hatte.
Mette hörte auf, über den Kalender zu scherzen, vielmehr bereitete er ihr nach und nach Angst: „Ich weiß nicht, da stimmt doch etwas nicht. Wie kann das sein? Das Puzzle zeigt unser Wohnzimmer – sogar unsere Topfpflanzen sind darauf zu erkennen. Ich glaube du solltest es nicht fertig machen! Wer weiß, wie das Bild am Ende aussieht! Immerhin soll es zeigen, wie du den Weihnachtsabend verbringen wirst. Doch ich sehe bis jetzt keinen Menschen auf dem Bild. Wo sind wir?“ „Ach, was! Sei bloß nicht so abergläubisch! Und außerdem: Vielleicht sind wir am Weihnachtsabend nicht zu Hause, weil unser kleiner Junge zu Welt kommt“, konterte Magnus.
Am Morgen des 24. Dezembers nahm Magnus voller Spannung das letzte schwarze Puzzleteil aus der Schachtel. Es passte genau in die Mitte des Bildes. Als er es einfügte ,verfärbte es sich langsam und das Bild war komplett. Das letzte Puzzleteil zeigte Magnus vor dem festlich geschmückten Weihnachtsbaum. Er kniete auf dem Boden, sein Gesicht war zu einer schmerzerfüllten Grimasse verzerrt, Tränen strömten über seine Wangen.
Um mehr Details erkennen zu können, beugte er sich mit zusammengekniffenen Augen über das Puzzle. Irgendetwas schien Magnus auf dem Bild fest an sich zu drücken. Als er es erkannte, stockte ihm der Atem. Es war der violette Teddybär.
Plötzlich riss ihn ein markerschütternder Schrei aus seinen Gedanken. Mette! Panisch rannte er ins Schlafzimmer, von wo der Schrei gekommen war. Mette stand vor Schmerzen gekrümmt am Bettende und fasste sich an den Bauch: „Bring mich sofort ins Krankenhaus. Irgendetwas stimmt nicht!“
Conny Sucher ist angehende Autorin und Ghostwriter. Bald erfährst du mehr über sie.