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Das Weihnachtslichtlein

von Rossi Nedyalkova

Vor langer Zeit wurde ein kleines Lichtlein im Himmel geboren. Es war so zerbrechlich, dass seine Mutter es in Watte wickelte, wenn sie es füttern wollte, und sein Vater so Angst hatte, es hochzuheben, dass er es nur stundenlang beobachtete, während es schlief, und ihm sanft übers Haar strich. Selbst als es wuchs, blieb das Lichtlein noch zerbrechlich und winzig. Was es jedoch wirklich von den anderen unterschied, war, dass es sich so einsam fühlte. Ja, wenn die anderen Lichter tanzten, tanzte es mit ihnen. Es kicherte laut mit seinen Freunden und sie trieben Unfug. Es sprang fröhlich auf seinem Bett herum, wenn es eigentlich schlafen sollte. Aber abends, wenn sich die anderen Lichter in ihre weichen Decken kuschelten und ihr Licht dämpften, strahlte es noch lange in der Nacht und hatte immer das Gefühl, dass es etwas zu tun hatte, dass irgendwo jemand auf es wartete.

Das ist die Aufgabe von Lichtlein: Sie gehen in die Welt und leuchten für die Menschen.

Und so verabschiedete sich das kleine Lichtlein eines Morgens, immer noch im Dunkeln, von seinen Eltern. Es nahm seinen mit Sternen bedruckten Lieblingsrucksack, legte seinen Lieblingsteddybären und zwei Kekse hinein und ging. Nicht, dass es wusste, wohin es gehen sollte. Nicht, dass es wusste, wer auf es wartete.

Als es das Haus verließ, wurde es auf der Schwelle vom Wind gepackt, der es wegtrug. Zuerst über einen Wald, dann vorbei an Windmühlen. Dort drehte der Wind verwirrt ein paar Runden, ließ das Lichtlein aber keinen Moment lang los. Nach einer sehr, sehr langen Reise, bei der das kleine Lichtlein manchmal lachte, manchmal die Augen weit aufriss, um sie gleich darauf wieder ängstlich zu schließen, setzte es der Wind sanft vor einer Tür ab.

Das kleine Lichtlein war ausgehungert von der langen Reise. So öffnete es seinen kleinen Rucksack und knabberte schnell seine Kekse. Doch dann war es so durstig! Also stand es auf und wollte gerade an die Tür klopfen, als diese aufging und Papa Thomas an ihm vorbei hinausstürmte. Er war spät dran. Mama Nelly rief ihm nach, dass er sein Mittagessen vergessen habe, also eilte er zurück, um es zu holen. Von drinnen konnte man Betty murren hören, dass sie nicht in die Schule gehen wollten und wann Freitag sei und dass sie dieses Frühstück nicht essen wollten … Mama Nelly wusste gar nicht, was sie zuerst machen sollte. Sie rannte hin und her, füllte Schüsseln mit Milch, ärgerte sich über die Kaffeemaschine, die immer noch nicht funktionierte.

Das kleine Lichtlein überlegte kurz, was es tun sollte. Dann beschloss es, sich leise auf Zehenspitzen hineinzuschleichen und sich in Bettys Bettchen zu legen, denn es war schon ziemlich müde. Und später, wenn alle draußen wären, würde es sich ein Glas Wasser nehmen. Als es jedoch an der Küche vorbeiging, blinzelte ihm ein Sonnenstrahl zu. Das kleine Lichtlein, immer noch jung und verspielt, lächelte ihn an und folgte ihm.

Plötzlich stand es auf dem Tisch, genau zwischen Mama Nellys Kaffeetasse und Bettys Cornflakes. Alle drei – Mama, Betty und das kleine Lichtlein – sahen sich verblüfft an. Das Grummeln verstummte, die Aufregung verwandelte sich in Stille. Betty streckte ihre Hand nach dem kleinen Lichtlein aus, das sogleich Angst bekam und sich duckte. Aber weil das kleine Lichtlein sah, dass auch Betty verängstigt war, kletterte es in seine Handfläche. Betty streichelte mit ihrem Finger das Lichtlein. Mama Nelly lächelte. Und plötzlich wurde der Raum heller.

Am Abend, als die ganze Familie zu Hause war, kletterte das kleine Lichtlein auf Papa Thomas’ Schultern, spielte dann mit einer widerspenstigen Strähne in Mama Nellys Haar und streichelte Bettys nackte Füße. Erst als es Zeit war, ins Bett zu gehen, sah das kleine Lichtlein einen riesigen grünen Tannenbaum in der Ecke des Wohnzimmers. Er war über und über geschmückt mit bunten, glänzenden Sternen, Pferdchen und Kugeln. Das kleine Lichtlein war fasziniert.

Es kletterte auf den Baum, schob die Nadeln zur Seite und kuschelte sich hinein. Und der Baum leuchtete plötzlich auf eine besondere, magische Weise. Der Weihnachtszauber ließ sich im Haus von Papa Thomas, Mama Nelly und Betty nieder.

Seitdem lebt das kleine Lichtlein bei dieser Familie. Denn dort ist es zu Hause.

Rossi Nedyalkova ist die Haus- und Hof-Fotografin der Ghostwriting Academy. Sie hat fast alle unserer Ghosties fotografiert.

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