Der Zauber von Weihnachten

Martina Hutter

Hanna fürchtete sich vor dem Weihnachtsabend.

Sie hatte schon drei Tage vorher frei gehabt und das ganze Haus durchgeputzt, geschmückt und dekoriert. Und sie war nicht sparsam gewesen.

Überall hingen Girlanden. Ein gigantischer Weihnachtsbaum zierte das Wohnzimmer, das man nun nicht mehr erkannte, da besagter Baum alles verdeckte. Man konnte seine Pracht auch nicht bewundern, während man auf der Couch saß, denn zu der schaffte man es nicht mehr.

Obwohl genug Weihnachtsschmuck da war, hatte Hanna nochmal etwas nachgekauft. Immerhin war der Baum noch nie so groß gewesen wie heuer.

Sie hatte Weihnachtskekse gebacken und sich Punschrezepte für den Heiligen Abend rausgesucht. Die ganze Adventzeit war sie damit beschäftigt gewesen, Dinge für den Weihnachtsabend zu besorgen, zu organisieren und vorzubereiten. Sogar einen Truthahn hatte sie besorgt, schon fertig zubereitet. Man müsste ihn nur 20 Minuten ins Rohr schieben und schon hätte sie eine Mahlzeit für … naja, etwa die nächsten acht Tage. Leider hatte sie keine kleinere Portion für Single-Haushalte auftreiben können. Und ein Truthahn musste es sein.

Der ganze Dezember war also voll mit Weihnachten. Kein Kitsch durfte fehlen. Da waren der Weihnachtswichtel und der Kranz vor der Türe. Fensterbilder auf den Scheiben und Tannenreisig-Girlanden an jedem Fenster. An jedem. Auch im Keller und am Dachboden.

Eine kleines Dekoteilchen spielte ein Weihnachtslied und drehte sich, wenn man Kerzen darunter stellte. Das hatte ihre Oma ihr geschenkt. Im Haus duftete es nach Zimt und Orangen und Hanna hatte gerade ihr Weihnachtskleid anprobiert und sich im Spiegel betrachtet.

Der Fernseher, gut versteckt hinter dem Weihnachtsbaum, lief schon den ganzen Tag. Licht ins Dunkel und Spendenmarathons waren dort zu sehen. Er übertönte das Dekoteilchen mit dem Weihnachtslied.

Eigentlich lief der Fernseher nur nebenher, damit sich Hanna nicht so einsam fühlte. Es würde ihr erstes Weihnachten ganz allein werden. Ihre Eltern waren nach Spanien gezogen und hatten sich dort ihren Lebenstraum erfüllt, während Hanna im Elternhaus geblieben war und sich jetzt das warme, wohlige Weihnachtsgefühl von früher erschaffen wollte. Mit ihrer Arbeitswut und Dekobegeisterung versuchte sie, das Gefühl von aufsteigender Einsamkeit zu besiegen. Es war nicht nur die Einsamkeit zu Weihnachten, es war auch ein bisschen Leere in ihrem Leben. Aber das konnte sie stets gut verdrängen.

Nun aber sah – das heißt, eigentlich hörte sie es nur – im Fernsehen einen Bericht über ein Mädchen mit einer körperlichen Behinderung und anschließend eine Doku über Obdachlosigkeit in Österreich.

Hanna erinnerte sich daran, dass sie vor längerer Zeit gemeinsam mit einer Gruppe in der Gruft für Obdachlose gekocht hatte. Der Gedanke kam ganz plötzlich und mit einem Mal hatte Hanna die Idee, Weihnachten eben nicht zu Hause zu verbringen, sondern sich in einer wohltätigen Einrichtung nützlich zu machen. Dort wäre sie beschäftigt und so hätte die Einsamkeit keine Chance! Vor ihrem geistigen Auge hatte sie sich schon daheim schräg auf der Couch liegen sehen, nach fünf Punsch und entsprechend melancholisch und von Übelkeit gezeichnet.

Es war schon Nachmittag und Hanna dachte sich, sie könnte einfach hinfahren. Irgendetwas würde schon zu tun sein. Auch wenn zu Weihnachten bestimmt andere auch diesen Gedanken hätten. War es vielleicht überheblich, dort aufzukreuzen und mithelfen zu wollen?

Egal. Schon saß sie, in ihrem Weihnachtskleidchen leicht frierend, in der U-Bahn auf dem Weg zur Gruft. Und dann stoppte die U-Bahn. Stoppte und fuhr keinen Zentimeter mehr weiter. Nach rund zehn Minuten Wartezeit ertönte eine Durchsage, dass ein technisches Gebrechen vorliege und man die Fahrgäste bitte, die Bahn zu verlassen.

In der Wartezeit bis zu der Durchsage wurde Hanna unsicher in ihrem Vorhaben, einfach unangemeldet bei der Gruft aufzutauchen und sich dort als helfende Hand zu präsentieren. Eventuell müsste man sich zu Weihnachten doch vorher anmelden?

Sie war plötzlich entmutigt und fand ihre spontane Idee ziemlich wenig durchdacht. Doch nun stand sie schon etwas verloren am Bahnhof herum. Der Gedanke daran, einfach wieder heimzufahren, war auch nicht sonderlich prickelnd, denn immerhin wartete dort niemand auf sie. Sie wollte nicht nach Hause, in das wunderschön geschmückte Haus, zu dem singenden Dekoteilchen, dem überdimensionalen Weihnachtsbaum und dem Truthahn, der ihr übermorgen zum Hals hinaushängen würde.

Plötzlich erblickte sie in einer Ecke am Bahnhof am Boden kauernd eine junge Frau. Ihre Haare waren wirr, und Hanna hätte nicht sagen können, ob das gewollte Dreadlocks sein sollten oder die Haare einfach auf dem besten Weg dahin waren. Aber etwas in ihr zog sie zu dem Mädchen, das ziemlich teilnahmslos vor sich hinstarrte und unentwegt ein kleines schwarzes Knäuel streichelte. Einen Hund?

Das Mädchen blickte auf und schaute Hanna unverwandt an. Diese erschrak. Das Mädchen kannte sie! Es war Bille!

Bille kannte sie aus der Schule, sie waren in der Volksschule vier Jahre lang eng befreundet und wie Pech und Schwefel gewesen. Danach war die Familie von Bille in einen anderen Ort gezogen, und die beiden hatten sich aus den Augen verloren. Doch gerade diese Augen waren es, die Hanna unter allen Menschen wieder erkannt hätte!

Und da saß sie nun. Bille. Hanna starrte sie an. Und Bille starrte zurück. Regungslos. In ihrem Blick lag eine Art von Tiefsinnigkeit, Sehnsucht und Melancholie. Da plötzlich zogen sich die Mundwinkel der jungen Frau nach oben, wenn auch etwas zaghaft und unsicher. Bille hatte Hanna nun auch erkannt.

Hanna trat an Bille heran und setze sich einfach neben sie. Zwischen ihnen lag das kleine Knäuel von Hund, das auf den wunderbaren Namen Jeanny hörte, wenn es mal drauf hören wollte. Beide streichelten den Hund, der die Hand von Hanna ableckte, und damit war das Eis gebrochen.

Die beiden Frauen hatten sich viel zu erzählen. Bille hatte einige schlimme Erfahrungen gemacht und hatte den Mut verloren. Sie hatte weder Job noch eine Wohnung oder sonstigen Besitz. Nur ihren süßen Hund – der gehörte ihr, und machte die Einsamkeit, die sie sonst umgab, erträglicher.

Hanna hingegen hatte im Grunde genommen alles. Und doch verband die beiden die Einsamkeit an diesem Abend, die sie zusammengeführt hatte. Die eine war losgezogen, um zu helfen. Die andere hatte keine Hoffnung, dass ihr jemand helfen würde.

Ob hier wohl der Zauber von Weihnachten seine Finger im Spiel hatte?

Die beiden Frauen beschlossen, das Weihnachtsfest bei Hanna zu Hause gemeinsam zu verbringen. Mit dem großen Weihnachtsbaum, der ihnen keinen Platz auf der Couch ließ, weshalb sie in der kleinen Küche auf der alten Eckbank landeten, wo schon vor knappen 15 Jahren Bille mit Hanna beim Frühstück gesessen war. Wo sie überschäumende Pläne über ihre Zukunft geschmiedet hatten. Und es schien, als würde jetzt ein Stück neue Zukunft geschrieben werden. Für Bille. Aber auch für Hanna, die sich noch nie so wohl in ihrem zu Hause gefühlt hatte wie heute.

Am Weihnachtsabend, den sie in Gesellschaft ihrer ältesten Freundin, deren Hund und der Hoffnung von Weihnachten verbringen durfte. Am Weihnachtsabend, wo all die Deko, der riesige Weihnachtsbaum, der zu große Truthahn … all das unwichtig wurde. Weil sie erkannte, dass nicht das Rundherum Weihnachten ausmacht.

Sie wusste nun: Menschen sind es, die Weihnachten zu Weihnachten machen.

Martina Hutter ist Autorin, Ghostwriter und Läuferin.