Traumsichtung

von Sarah Ritt

„Schaut euch das an!“ Müller stürmte in das Büro, das Wagner und ich uns teilten. Seine Brille saß komplett schief, er zitterte, als hätte er heute bereits fünf Espressi hintereinander getrunken (tatsächlich waren da Kaffeeflecken auf seinem Ärmel) und wie frisch geduscht sah er auch nicht aus.

Wagner verdrehte genervt die Augen. Er hielt Müller für einen absoluten Spinner. Als Dienstältester in unserem Labor genoss dieser aber unter anderem das Privileg, uns jederzeit bei der Arbeit zu stören.

„Es ist unglaublich …“ Müller fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, als hätte er nicht geschlafen. „Ich habe es tatsächlich geschafft, die Träume von Mäusen so zu beeinflussen, dass sie, nachdem sie aufgewacht sind, genau die Art Futter ansteuern, die ich ihnen im Traum vorgeführt habe!“ Er ließ einen Stapel eng bedrucktes Papier auf meinen Schreibtisch fallen, genau aus einer Höhe, die mein Wasserglas gefährlich hüpfen ließ. Ich schaffte es noch rechtzeitig, danach zu greifen und Schlimmeres zu verhindern, während ich versuchte, mich auf die erste Seite von Müllers Papierberg zu konzentrieren.

„Das ist sicher nur Zufall“, mischte sich Wagner ein, „an wie vielen Mäusen hast du das getestet, einer? Zwei Nächte lang?“

„Spar dir deinen Spott und denk an die vielen Anwendungsmöglichkeiten in der Zukunft: Menschen würden länger leben, weil sie nur noch gesunde Dinge essen wollen, sie würden, statt eine Zigarette zu rauchen, lieber eine Runde joggen gehen wollen und, statt vor dem Computer zu sitzen, mit ihren Kindern spielen!“

„Komm, hör auf, Gedankenkontrolle gibt’s nur im Film!“

Getroffen von Wagners Abschätzigkeit und vielleicht auch von meinem Schweigen – ich war komplett überrumpelt worden von dem Mäuseexperiment – stapfte Müller, immer noch leicht zitternd, aus unserem Büro. Wir beschlossen, uns wieder unserer eigentlichen Arbeit zu widmen.

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„Mama, Mama, bald kommt das Christkind!“

„Ja, mein Schatz, in ein paar Wochen ist Weihnachten. Hast du dir schon überlegt, was du auf deinen Wunschzettel schreiben wirst?“

„Jaaaa, ich will Rollschuhe, die leuchten können und überall Glitzer haben!“

„Hm, ich weiß nicht, ob das Christkind sowas besorgen kann, also ob es sowas überhaupt gibt …“

„Aber Mamaaaa, das gibt es, ich hab die Rollschuhe gesehen, als ich geschlafen hab! Genau solche will ich haben!“

Sarah Ritt ist Autorin, Lektorin für deutsch und englisch sowie Ghostwriterin.

Foto: Rossart