Gisela und die Lilie

von Kat Hladik

Gisela hat ein turbulentes Leben hinter sich. Als sie jung war, reiste sie über den ganzen Erdball in viele fremde Länder und erlebte viele spannende Abenteuer. Aber jetzt ist sie schon alt, der Körper will nicht mehr so richtig und sie ist nicht mehr so gut zu Fuß. Deshalb hat sie sich in ihrem gemütlichen Haus in den Bergen niedergelassen.

Von einer ihrer früheren Reisen hat Gisela ein Andenken mitgebracht: eine magische Lilie. Nach den Legenden der Ureinwohner der Region, aus der die Lilie kommt, sorgt die Blume für endlosen Reichtum.

Sie war zwar früher einmal verheiratet, aber ihr Mann ist schon lange tot und ihre Kinder sind längst ausgezogen und haben eigene Familien gegründet. Das heißt aber nicht, dass sie einsam und allein ist in ihrem Haus, ganz im Gegenteil. Bei ihr wohnt Ferdinand, er ist ein rot-gestreifter großer Kater, den sie liebevoll ihren kleinen Tiger nennt.  Außerdem arbeitet bei ihr Herr Adler, ihr Butler. Er hilft ihr bei den Dingen im Haushalt, die sie allein nicht mehr schafft.

An kalten Winterabenden, wenn draußen der Schnee leise fällt, sitzt Gisela gerne im Wohnzimmer und strickt Socken für ihre Enkel, während es sich Ferdinand auf dem Teppich gemütlich macht und sie dabei beobachtet. Eines Abends bemerkt Gisela einen Schatten am Fenster, aber als sie hinsieht, ist nichts zu erkennen. Wahrscheinlich hat sie es sich nur eingebildet.

Kurz vor Mitternacht schreckt Gisela hoch, sie war über ihren Stricknadeln eingenickt. „Zeit, schlafen zu gehen!“ murmelt sie vor sich hin und geht nach oben in ihr Schlafzimmer. Kurze Zeit später ist sie auch schon eingeschlafen und im Haus ist es ruhig.

Nur der Kater hört das Kratzen am Fenster. Draußen steht eine dunkle Gestalt und versucht, durch das Fenster ins Wohnzimmer einzubrechen. Nach mehreren Minuten schweißtreibender Arbeit und viel Gefluche hat die Gestalt das Fenster endlich geöffnet und steigt ins Haus ein. Der Kater beobachtet unauffällig.

Das Objekt der Begierde scheint die Lilie zu sein, die am Tisch im Wohnzimmer unter einer Glasglocke steht. Ferdinand gibt den Mäusen in der Zimmerecke, mit denen er sich prächtig versteht, heimlich ein Zeichen. Sie sollen den Dieb ablenken.

Die beiden Mäuse machen sich sofort ans Werk. Die eine, Babette, schleicht sich an den Dieb heran und schlüpft von unten in sein Hosenbein. Nach anfänglicher Verwirrung stößt der Dieb ein entsetztes Fiepen aus und fängt an, sein Bein wild zu schütteln, um die Maus wieder aus der Hose zu bekommen. Babette ist aber eine exzellente Kletterin. Sie hält sich gut an seiner Wade fest und klettert sogar noch weiter empor. Das Fiepen wird noch eine Oktave höher, als sie oberhalb des Knies angelangt ist. Währenddessen ist die zweite Maus, die Brigitte heißt, auf das Bücherregal gekrabbelt, springt in diesem Moment todesmutig von oben auf den Dieb und landet hinten in seinem Kragen. Jetzt reißt die Gestalt, immer noch auf einem Bein hüpfend, beide Hände nach oben, und versucht, die zweite Maus aus seinem Genick zu entfernen.

Diese ganze Aktion hat Ferdinand genug Zeit gegeben, um Herrn Adler aufzuwecken und auf den Einbrecher aufmerksam zu machen. Dank Babette und Brigitte ist dieser inzwischen auch nicht mehr sonderlich leise. Als der Butler ins Wohnzimmer kommt und das Licht anschaltet, bietet sich ihm ein komischer Anblick. Der Dieb, der sich jetzt als Mann mit dunklem Anzug und Zylinder herausstellt, hat in seiner Panik die Schneekugel und den Globus vom Tisch geräumt und ist immer noch verzweifelt damit beschäftigt, die Mäuse loszuwerden.

Als diese Herrn Adler erblicken, lassen beide sich auf den Boden fallen und verschwinden im Dunkeln. Ihre Arbeit ist getan. Der Butler hat sich mit einem Schürhaken vom Kamin bewaffnet und zielt damit auf den Einbrecher. In diesem Moment kommt auch Gisela ganz verschlafen bei der Tür herein, sie war vom Lärm geweckt worden.

Als sie den Einbrecher erkennt, fragt sie verdutzt: „Aber Günther, was machst du denn hier?“

„Sie kennen den Mann?“, wundert sich daraufhin Herr Adler.

„Aber natürlich“, erklärt Gisela jetzt. „Er ist der Ex-Mann meiner Tochter Gertrude! Aber ich verstehe nicht, was er hier zu suchen hat.“

Herr Adler schwenkt drohend den Schürhaken Richtung Günther, um ihn zum Antworten zu animieren. Dieser hat sich inzwischen so weit im Griff, um zu stottern: „Ich gestehe, ich wollte die Lilie für ewigen Reichtum, ich bin in finanziellen Schwierigkeiten!“

„Warum bist du denn nicht zu mir gekommen?“, fragt Gisela jetzt vorwurfsvoll. „Wir hätten doch über alles reden können! Davon abgesehen hätte dir die Lilie sowieso nicht bei deinem Problem geholfen!“

Günther klappt die Kinnlade herunter: „Aber warum? Bringt sie denn keinen Reichtum?“

„Das schon“, erwidert Gisela, „aber nicht den, den du wolltest. Die Blume sorgt dafür, dass man nie allein ist und immer von Freunden umgeben. Und das hat sie auch gemacht.“ Gisela schaut sich im Zimmer um und lächelt sowohl Ferdinand als auch Herrn Adler liebevoll an.

Gisela holt tief Luft und dreht sich um. Im Rausgehen verkündet sie: „So, und jetzt gehen wir in die Küche, Herr Adler wird uns eine Kanne Tee machen, und du erzählst mir von deinen Problemen!“ Herr Adler und Günther starren ihr einen Moment hinterher, starren sich dann gegenseitig kurz an, zucken mit den Schultern und folgen ihr daraufhin ohne weitere Worte in die Küche…

Katharina Hladik ist ein Bunter Vogel, der neben ihrer Arbeit als virtuelle Assistentin auch Modeschmuck für Nerds herstellt.

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