Der letzte Weihnachtswunsch
Barbara Miklosch
Barbara Miklosch
Als Josefine aus dem Fenster blickt, streicht ein kalter Schauer über ihre Schultern. Draußen tobt ein Schneesturm wie schon seit vielen Jahren nicht mehr. Der Wind peitscht die weißen Flocken durch die Luft und stünde Fine, wie ihre Freunde sie nennen, im Freien, könnte sie ihre Hand vor Augen nicht sehen. Von der warmen Stube aus sieht sie nicht einmal bis zur Weggabelung, die in die Stadt oder, besser gesagt, in die nächste Ortschaft, führt.
Im Kamin knistert ein Feuer, es duftet nach Zimt und warmer Butter. Fine lächelt, als sie nebenan ein Glucksen hört. Langsam macht sie sich auf den Weg in die Küche. Nicht, dass ihr Haus so groß wäre, nein, Fines Knochen schmerzen und jeder Schritt kostet sie Kraft und Mühe. Auch wenn sie an Tagen wie diesen förmlich aufblüht, 93 Lebensjahre machen sich irgendwann bemerkbar.
„Du liebes Lieschen!“, ruft Fine, gerade als sich fünf kleine Fingerchen einen Keks von der Arbeitsplatte stibitzen. „Da wird sich doch nicht die kleine Lani den Bauch mit frischen Weihnachtskeksen vollschlagen?“ Theatralisch baut sie sich vor dem kleinen Mädchen auf, stemmt die Fäuste in die Hüfte und zwinkert der kleinen Diebin lächelnd zu. Fröhlich quietschend wirft sich die vierjährige Schönheit an Urgroßmutters Beine. „Lani und Kai haben lecker Kekffe mit Urli gemacht!“ Sanft streicht Fine dem Mädchen über den Kopf, „Ja mein Schatz, das haben wir!“
„Wo ist denn dein Bruder hin verschwunden?“ „Lani weiff nicht“, sagt die Kleine schulterzuckend, während sie sich noch einen Keks in den Mund schiebt. Bevor das Kind die restlichen Kekse auch noch in Rekordzeit vertilgt, räumt Fine sie in die dafür vorgesehenen Blechdosen. Kurz darauf kommt Kai in die Küche getrottet und lässt den Kopf hängen. „Urlioma! Mama will mit dir sprechen, sie kann uns heute nicht abholen, weil in der Stadt ein Kehrverslokaps ist, sagt sie.“
Urlioma nimmt das Smartphone und murmelt: „Verkehrskollaps, mein Schatz, das heißt Verkehrskollaps.“ Wenig später richtet sie den beiden Bettwäsche her. „Wir müssen uns ein wenig zusammenkuscheln, aber das wird schon gehen. Morgen Abend kann euch eure Mama sicher abholen, wenn die Straßen wieder frei sind.“ Nachdem Fine die Kinder zu Bett gebracht und das Chaos in der Küche beseitigt hat, setzt sie sich mit einer Tasse dampfenden Tee in ihren Schaukelstuhl. Das Holz knackt hie und da, und die Flammen tanzen harmonisch im Kamin. Sie grübelt über die Frage ihres Urenkels nach. Was sie sich denn dieses Jahr vom Christkind wünsche, hatte er beim Zähneputzen gefragt und dabei die Zahnpasta auf den Spiegel gespuckt. „Darüber reden wir morgen, junger Mann, jetzt geht es ab ins Bett“, hatte sie dem Sechsjährigen versprochen.
Was soll sich denn eine alte Frau wie ich noch wünschen? Ich habe doch alles, was ich brauche, und eigentlich wünsche ich mir nur, dass alle meine Lieben gesund bleiben. Ich hätte nur den einen Wunsch, doch der wird mir wohl in diesem Leben verwehrt bleiben, dabei würde ich alles dafür geben, sie noch einmal zu sehen …, denkt Fine bei sich.
Langsam werden ihre Augen schwer und wie so oft schläft sie in ihrem Schaukelstuhl ein, während draußen immer noch die Schneeflocken durch die Luft wirbeln.
Am nächsten Morgen ist es windstill, und der viele Schnee hat sich über die Häuser und Straßen gelegt. Als Fine die Augen aufschlägt, fühlt sie etwas an ihren Füßen. Vorsichtig schaut sie hinunter und findet ihre beiden Lieblinge in Decken gehüllt an ihre Beine gelehnt vor. Nach einem gemeinsamen Frühstück beschließen die drei dann rauszugehen. Die Kinder möchten gerne einen Schneemann bauen, und Fine freut sich ebenfalls darauf, im frischen Schnee umherzustapfen. Mit zwei Gehstöcken und festem Schuhwerk ausgerüstet, marschiert sie los. Die Kinder immer ein paar Schritte hinter ihr, weil sie nebenbei eine Schneeballschlacht abhalten. Der ein oder andere Schneeball trifft Fine, doch die fühlt sich heute so großartig wie schon lange nicht mehr. Deshalb machen ihr die Schneebälle gar nichts aus. Ohne Ziel wandern die drei immer tiefer in den Wald. Sie plaudern über das bevorstehende Weihnachtsfest, das Christkind und die Geschenke, die sich die Kinder erhoffen.
Die ganze Zeit über hat Fine nicht wirklich auf den Weg geachtet und ist einfach immer weitergelaufen, bis sie plötzlich verdutzt stehenbleibt. Ungläubig blickt sie sich um.
Kann denn das wahr sein? Habe ich sie tatsächlich nach all den Jahren erfolgloser Suche nun durch Zufall wiedergefunden? Ich kann es spüren, hier war es, hier habe ich sie das letzte Mal gesehen!
Die Kinder bemerken, dass ihre Uroma stehengeblieben ist und Unverständliches murmelt. „Urli, geht’s dir nicht gut?“, fragt Lani vorsichtig. Die Frau hört das Mädchen nicht sofort. Erst als die kleinen Händchen fest an Fines Ärmel ziehen, sieht sie das Kind an. „Wisst ihr Kinder, ich war schon sehr lange nicht hier. Als junges Mädchen allerdings habe ich diesen Ort immer ein paar Tage vor Weihnachten besucht. Es war für mich ein ganz besonderer Platz.“ „Aber hier ist doch gar nix, Urli“, ruft Kai verständnislos, während er seine Schneekugel vor sich herrollt. Der Schneemannbau ist in vollem Gange „So macht es den Anschein“, gibt Fine zurück und sieht sich suchend um.
Vielleicht irre ich mich ja. War es womöglich doch woanders? Doch die Bäume hier, sie sehen genauso aus wie damals, und dort die Tanne mit dem eingeschnitzten Herz. Es muss doch hier sein.
Etwas erschöpft, aber erwartungsvoll nimmt Fine auf einem Baumstumpf Platz und sieht sich weiter um. Die Kinder arbeiten bereits emsig am Oberkörper des Schneemanns und beginnen jede Minute mit dem Kopf. Der Schneemann wird fast so groß wie Kai. Toll, was die süßen Mäuse in so kurzer Zeit vollbracht haben! Langsam beginnt Fine zu frösteln und auch die Kinder beginnen allmählich, vor Kälte zu zittern. Fine rappelt sich von ihrem Sitzplatz auf. Enttäuscht beschließt sie, mit den Kindern den Nachhauseweg anzutreten. Die ganze Zeit über hat sie Ausschau gehalten. Doch nichts ist geschehen. Sie ist sich nicht einmal mehr sicher, ob dies hier wirklich die richtige Stelle ist.
Ich habe sie all die Jahre nicht wiedergefunden, warum auch sollte genau heute der Tag sein?
Doch nach ein paar Schritten bleibt Josefine wie angewurzelt stehen. DA! „Kinder, schnell, kommt her! Schaut doch, da ist sie!“ „Wer denn, Urli? Wer ist da? Ich sehe niemanden“, gibt Kai etwas genervt zurück. Ihm ist kalt und er will nach Hause und eine schöne Tasse heiße Schokolade trinken. Doch da sieht er es auch. „Nicht wer, mein Schatz. WAS, ist die richtige Frage. Schau hin, du wirst es gleich sehen!“ Fine kann ihr Glück kaum fassen. Freudentränen laufen ihr über die Wangen, als sich vor ihr ganz vorsichtig die Knospe durch die Schneedecke kämpft. Das leuchtende Rot hebt sich schimmernd und strahlend vom Weiß des Schnees ab und nun blicken auch die Kinder gebannt zu dem Schauspiel, das sich ihnen offenbart. Ganz langsam öffnet sich Blatt für Blatt der mittlerweile lebensgroßen Blume, die binnen kürzester Zeit aus dem Boden gesprossen ist. Rund um dieses Geschöpf scheint die Luft zu flimmern, und jede Bewegung hat etwas Magisches an sich. Nicht nur die Wärme, die von ihr ausgeht, die Farben, der Geruch. Alles an dieser Blume ist nicht logisch erklärbar. Der kleinen Lani steht seit Minuten der Mund vor Staunen offen, und Kai klammert sich unsicher an seine Uroma. Diese kann ihre Freude nicht zurückhalten und weint herzzerreißend ob der Schönheit dieses Spektakels. Endlich beginnt sich das letzte Blatt zu lösen. Fine hält den Atem an, gleich ist es soweit, und es werden wieder ganz viele wunderbare Geschöpfe geboren. Sie beobachtet, wie sich die bereits gelösten Blätter in kleine rosa Wolken auflösen und davonschweben. Dort, wo bei einer Sonnenblume die Kerne wachsen, recken und strecken sich in dieser magischen Weihnachtsblume gerade hunderte kleine Wesen. Sie öffnen die Augen und lächeln die drei Menschlinge an. „Elfen, Urli, das sind Elfen!“, ruft Kai aufgeregt. „Ja, mein Schatz. Hunderte kleine Elfen, die bis zum Frühling wachsen und gedeihen können, um dann der Natur beim Wiedererwachen zu helfen“, flüstert Fine andächtig. Sie kann einfach nicht aufhören zu lächeln. So sehr hat sie sich danach gesehnt, dieses Spektakel noch einmal zu sehen, und so unerwartet wurde ihr dieser Wunsch ein letztes Mal gewährt. Fine könnte nicht glücklicher sein.
Die drei bleiben angewurzelt stehen, bis die letzte engelhafte Elfe ihre Flügel ausbreitet und im Schutze des Waldes davonflattert. Fast so weiß wie der Schnee, sind sie schon nach ein paar Metern unsichtbar für das menschliche Auge. Immer noch flimmert die Luft, und langsam lösen sich auch der Fruchtknoten, die Samenanlage und der Stängel der magischen Blume. Noch lange stehen Fine und die Kinder da und starren an die Stelle, an der vor kurzem noch Elfen geboren wurden.
Tausend Fragen muss die glückliche Frau den Kindern auf dem Heimweg beantworten. Sie erzählt ihnen von der Legende der magischen Blume, wonach diese nur einmal im Jahr erblüht und das kurz vor Weihnachten. Doch das tut sie, nur wenn ein Mensch mit reinem Gewissen zur rechten Zeit am rechten Ort ist. Das gibt der magischen Blume die Gewissheit, dass ihren zarten Schützlingen kein Schaden zugefügt wird und sie behütet tiefer in den Wald entkommen können. Elfen werden einige hundert Jahre alt, und somit finden solche Geburten in der Regel nur alle 80 bis 100 Jahre statt. Wenn Elfen dann zu alt sind für die anstrengenden Arbeiten im Frühling, werden sie, so die Legende, als Menschen wiedergeboren, um als diese für den Schutz der Natur zu sorgen. Nach einem langen, glücklichen und erfüllten Menschenleben lösen sich die Elfen in Menschengestalt wie die Blumenblätter in rosa Wolken auf und schweben davon, um im Kreislauf der Natur weiter voranzukommen.
Schon als Kind war Fine Zeugin einer Elfengeburt geworden und war so unglaublich stolz darauf, dass sie ihr ganzes Leben nach bestem Wissen und Gewissen gelebt hatte, um vielleicht noch einmal Zeugin eines solchen Spektakels werden zu können. Einfach nur um der Schönheit willen.
Zu Hause angekommen, stärken sich die drei mit heißer Schokolade und den selbstgebackenen Keksen vom Vorabend. Lani und Kai müssen Fine versprechen, niemandem von ihrem gemeinsamen Geheimnis zu erzählen. „Die Natur sucht sich ihre Zeugen selbst aus, denn wenn die falschen Menschen davon erfahren würden, wären die Elfen gefährdet, und irgendwann kämen keine Elfen mehr nach, die die Natur beim Frühlingserwachen unterstützen können. Dann würde irgendwann eine Eiszeit über die Erde kommen“, erzählt sie den Kindern. Das verstehen die beiden und geben ihr Wort darauf, niemals einer Menschenseele davon zu erzählen. Nachdem die drei ihren Schwur mit einer weiteren Tasse heißer Schokolade besiegelt haben, kommt auch schon Fines Enkelin, um ihre Kinder abzuholen.
Kurz darauf fällt Josefine, in ihrem Schaukelstuhl wippend, in einen tiefen und friedvollen Schlaf. Ihr letzter Weihnachtswunsch ist tatsächlich in Erfüllung gegangen. Wider Erwarten hat Fine ein weiteres Mal in ihrem Leben das Privileg erhalten, den Fortbestand ihrer Geschwister zu sichern. Als die Kinder ein letztes Mal einen Blick auf das Haus ihrer Urgroßmutter erhaschen, sehen sie rosa Wolken aus dem Schornstein aufsteigen.
Barbara Miklosch ist Autorin, Ghostwriter und Lehrgangsleiterin von Mind Over Matter – Lehrgang für Mental- und Resilienztraining in Wien.