Der geheime Brief
Angelika Oswald
Angelika Oswald
Noch zwei Wochen bis Weihnachten. Endlich! Mia kann es kaum erwarten, bis das Christkind, an das sie natürlich schon lange nicht mehr glaubt, endlich kommt. Ihre Eltern betreiben jedes Jahr einen riesigen Aufwand, um die Christkind-Fassade aufrecht zu erhalten. Sie schmücken die riesengroße Weihnachtstanne in der Nacht vor dem Heiligabend, stapeln die Geschenke darunter. Dann wird die Türe zugesperrt und noch mit einem großen Leintuch verhängt, damit man nicht doch noch etwas durch das Schlüsselloch erkennen kann. Den ganzen Tag sagen sie dann Sätze wie: „Ich weiß nicht, ob das Christkind schon da war.“ oder „Hoffentlich wird es dieses Jahr kein trauriges Weihnachten. Was ist, wenn das Christkind die Geschenke vergessen hat?“ Mia würde zwar gerne jedes Mal darauf sagen: „Hallo, ich bin schon fünfzehn!! Ihr müsst nicht so eine Show abziehen!“, aber irgendwie findet sie ihre Eltern richtig süß, wenn sie sich so bemühen. Zu deren Verteidigung muss man ja auch sagen, dass Mia immer mitspielt und auch noch einen Brief ans Christkind schreibt. Freiwillig. Warum auch nicht? So ist zumindest sichergestellt, dass die Geschenke, die sie haben möchte, auch unter dem Christbaum liegen – zumindest die meisten.
Genauso ist es auch in diesem Jahr. Der Brief ist schnell geschrieben: eine Lidschattenpalette, ein neues Tablet, die coolen Sneaker ihrer Lieblingsmarke und noch ein paar Shoppinggutscheine. Dann wird er noch hübsch verziert, in ein Kuvert gepackt und aufs Fensterbrett gelegt. Tatsächlich hat Mia ihre Eltern noch nie dabei erwischt, wie sie den Brief in der Nacht holen. Sie sind offensichtlich wirklich geschickt oder Mia hat einfach einen zu festen Schlaf.
In diesem Jahr gibt es aber einen zweiten Brief. Einen geheimen. Mia hat einen Wunsch, der unbedingt in Erfüllung gehen soll, aber davon dürfen ihre Eltern nichts wissen. „Ja, das Christkind gibt es nicht, aber einen Versuch ist es wert“, denkt Mia, als sie zu schreiben beginnt. Die Weihnachtszeit ist doch eine Zeit voller Wunder, und genau auf so eines hofft sie einfach. Vielleicht ist es mit dem Christkind ein bisschen so wie in dem Buch „Bestellungen beim Universum“. Auf dieses Buch schwört ihre beste Freundin Lucy. Beim Universum hat Mia noch nie bestellt, aber das Christkind ist ja auch so ein ätherisches, nicht greifbares Fantasiewesen, das im Himmel herumfliegt. Vielleicht, ja vielleicht …
Ein bisschen blöd kommen ihr ihre Gedanken schon vor, aber ganz hinten in ihrem Herzen hat sie die Hoffnung, dass ihr Plan klappt. Sie hat nämlich beschlossen, dass es endlich Zeit für einen Freund ist. So einen richtigen mit allem Drum und Dran. Der sie mit Herzchen in den Augen anschaut, ihr sagt, dass sie die Schönste ist und ihr ewige Liebe schwört.
Ihre beste Freundin hat schon seit einem Jahr einen Freund. Lukas. Der Schönling aus der Nebenklasse. Die beiden scheinen echt glücklich zu sein und das freut Mia natürlich, aber manchmal ist sie schon ein bisschen neidisch.
Obwohl ihr ihre Freunde und Familie immer sagen, wie hübsch sie ist, finden die Jungs sie offensichtlich nicht so berauschend. „Ich wäre eine tolle Freundin, aber keiner will mich. Warum nur?“, fragt sie sich immer wieder. Naja, es gab schon den einen oder anderen in ihrer Schule, der mit ihr „gehen“ wollte, aber die wollte sie alle nicht. Der eine ist ein Streber, der andere ein Player und den Klassenclown will sie auch nicht. Der einzig normale Junge ist Jonas, ihr bester Freund, aber der ist irgendwie tabu. Sie beide sind schon so lange in der Friendzone, dass es irgendwie komisch wäre, wenn da mehr laufen würde. Außerdem sind Mädels irgendwie kein Thema bei ihm. Soweit Mia weiß, hatte er auch noch nie eine Freundin, aber auf der Suche scheint er deshalb auch nicht zu sein. Ihr Typ wäre er schon und nett ist er auch, aber einen ernsthaften Gedanken hat sie an ihn noch nie verschwendet.
Vielleicht trifft sie ihren Traummann ja ganz zufällig. Beim Einkaufen oder in der Straßenbahn … wie auch immer, jetzt muss das Christkind helfen.
Sie beendet ihren Brief, drückt noch einen kleinen Kuss darauf und versteckt ihn in ihrem Tagebuch. Vielleicht findet das Christkind den Brief ja auch, wenn er nicht so offensichtlich am Fensterbrett liegt. Ein bisschen muss sie über sich selbst schmunzeln. Wie kindisch und unrealistisch ist eigentlich diese Vorstellung, dass das klappt! Aber wie sagt ihr Vater immer: „Es sind schon Nachtwächter bei Tag gestorben.“ Und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Am nächsten Morgen fällt ihr erster Blick auf ihr Tagebuch. Ist der Brief noch da? Langsam öffnet sie das Büchlein und … da ist er. Natürlich. Was auch sonst? Mia muss zugeben, dass sie ein bisschen enttäuscht ist, aber mal ehrlich: Wenn der Brief weg gewesen wäre, hätte sie einen Herzinfarkt bekommen. Sie schüttelt den Kopf, klappt das Buch wieder zu und verstaut es sorgsam in ihrem Geheimversteck. Nicht, dass ihre Mutter beim Aufräumen etwas entdeckt!
Die Tage vergehen, und der Heilige Abend steht kurz bevor. Am letzten Schultag freut sich Mia besonders, denn in ihrer Klasse wurde dieses Jahr gewichtelt und jetzt kommt die große Bescherung. Damit es bis zum Schluss ein Geheimnis ist, von wem die Geschenke sind, stellt jeder sein Päckchen möglichst unauffällig in den großen Bücherschrank im Klassenzimmer. Natürlich beschriftet, damit es dann keine Missverständnisse gibt. Mia hat in der geheimen Auslosung Klara gezogen. Die beiden sind befreundet, daher war es einfach, ein Geschenk zu finden. Klara bekommt eine Duftkerze mit ihrem Lieblingsduft und Schokolade. Darüber freut sie sich sicher.
Endlich läutet die letzte Pausenglocke und alle stürmen fast gleichzeitig zum Bücherschrank. So viele Päckchen! Um genau zu sein 26. Es beginnt die große Suche nach dem eigenen Geschenk. Lucy, die in der ersten Reihe steht, hält triumphierend ein Paket in der Größe einer A4-Seite in die Luft. „Mia! Das ist deines!“ Was? So ein großes Geschenk? Was ist das bloß? Als Mia es in die Hände bekommt, ist es nicht nur groß, sondern auch ziemlich schwer. Sie kann es kaum erwarten, es aufzumachen. Das Geschenkpapier ist sehr schön, aber darauf kann sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie reißt das Papier auf und … es ist ein Spiegel. Auf der oberen Kante steht: „Das Schönste steht nicht im Text, sondern davor.“ Und unten: „Ich hab mich in dich verliebt.“ Wie? Es dauert ein paar Sekunden, bis Mia versteht, was sie gerade gelesen hat. Und dann werden ihre Wangen flammend rot. Wer würde ihr sowas schenken? Ist das ein Scherz? Will sich jemand über sie lustig machen? Oder ist das etwa ernst gemeint? Sie schaut in die Runde, ob jemand sie auslacht oder ihr zuzwinkert, aber alle sind viel zu beschäftigt mit Auspacken und Raten, von wem sie die Geschenke bekommen haben. Jetzt findet sie die Geheimniskrämerei doch nicht mehr so lustig.
Mia sprintet zurück zu ihrem Tisch und steckt den Spiegel schnell in den Rucksack, bevor ihn noch jemand sieht. Wer ist ihr Wichtel? Ihr Herz und ihre Gedanken rasen. Dann kommt Lucy zu ihr. „Alles okay? Was hast du bekommen?“ „Schokolade“, sagt Mia schnell. Sie muss erst rausfinden, was das alles zu bedeuten hat. Die Auflösung des Wichtelns ist erst für nach den Weihnachtsferien geplant. So lange noch! Wie soll sie das bloß aushalten?
Auf dem Nachhauseweg grübelt Mia die ganze Zeit. Könnte es vielleicht doch jemanden geben, der sie mag? Aber wer? War der Brief an das Christkind doch ein Erfolg? Nein, das ist unmöglich … oder?
Kaum zu Hause angekommen, läuft sie in ihr Zimmer, wirft die Türe zu und holt den Spiegel aus dem Rucksack. Ungläubig liest sie immer wieder die Zeilen. Nur entfernt hört sie, wie es an der Wohnungstür läutet. Sie ist viel zu beschäftigt mit ihrem Gedankenkarussell. Dann klopft es an ihrer Zimmertüre. „Die Türe ist zu! Ich möchte meine Ruhe haben!“, brüllt Mia. „Erstens: Geht das ein bisschen freundlicher? Und zweitens: Du hast Besuch“, ruft ihr Vater durch die geschlossene Tür. Mia stöhnt genervt und versteckt den Spiegel schnell unter der Bettdecke. Sie schlurft zur Tür und öffnet langsam. „Ja?“ Vor ihr steht Jonas. Ihr bester Freund. „Was willst du hier? Ich hab keine Zeit!“, meint Mia ein bisschen genervt. Jonas hält ihr einen Hammer und eine Schachtel Nägel vor die Nase. „Ich dachte, du möchtest vielleicht den Spiegel aufhängen …?“
Angelika Oswald ist Autorin, Eventplanerin und Ghostwriter.